Ines oeffnet die Tuer
Mutter dann zu. »Ich habe dich und Julian ganz schön vernachlässigt.« Sie warf ihre dunklen Locken zurück. »Ich versuche mich zu bessern.«
»Ach, Mama ⦠hör schon auf.«
»Deswegen habe ich noch mal mit deinem Vater über den Hausarrest gesprochen. Er war zwar dagegen, aber ⦠ich denke, ab morgen können wir ihn aufheben.«
Ines verstand die Welt nicht mehr.
»Ist das euer Ernst?«
»Es war für die ganze Familie ein Schock, dass Agnes verschwunden ist«, sagte Carmen. »Da haben wir alle ein paar dumme Dinge gesagt oder getan â nicht nur du. Und wir müssen doch zusammenhalten, oder?«
Sie küsste Ines auf die Stirn und stand auf.
»Bin schon weg. Lass dir den Eistee schmecken.«
Ines blickte ihrer Mutter hinterher, als sie die Zimmertür zuzog.
Ich werde nicht schlau aus ihr, dachte sie. An einem Tag ist sie nicht zum Aushalten und dann wieder so lieb. So etwas Wankelmütiges! Wer weiÃ, morgen fängt sie wieder mit Singen an ⦠würde mich nicht wundern.
Sie schnappte sich die Zeitschrift und begann einen neuen Artikel. Aber sie konnte sich nicht mehr auf den Inhalt konzentrieren.
Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, zu Sonja und Karol â und zu Vopelian. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde?
Sonja hatte ihr gestern eine SMS geschrieben und erzählt, dass sie am Alten Museum gewesen war. Aus reiner Neugier, hatte sie behauptet. Aber die Tür des Refugiums sei nicht mehr dort gewesen, nur die verriegelte Pforte des Pavillons.
Er ist mit seinem Fasan weitergezogen, dachte Ines. Irgendwohin, wo ihn niemand findet. Vielleicht sucht er diesen Benjamin oder er beobachtet durch sein Fenster den Nebel, um wieder ein Licht zu entdecken und einen neuen Schachgegner. Vielleicht trifft er sogar Agnes da drauÃen und dann reden sie über mich, und Basileides blickt Agnes mit seinen klugen Augen an und überlegt sich, was er von seinem neuen Untertanen halten soll.
Bei dem Gedanken musste sie lächeln.
Sie summte leise eine Melodie â und merkte erst nach einer Weile, dass sie tatsächlich zu hören war.
Es war ein Chanson!
Lucie Paulette, schoss es ihr durch den Kopf.
Sie setzte sich aufrecht hin und starrte zur Wand.
Das Poster war verschwunden!
Und an seiner Stelle war â die Tür des Refugiums!
Â
Sie stand einen Spaltbreit offen.
Kein geschmolzener Schlüssel steckte im Schloss, und der Widderhorngriff blinkte wie eh und je.
Aus dem Inneren fiel warmes, freundliches Licht nach drauÃen, und Musik drang aus dem Raum, leise, verhalten und vom kratzenden Geräusch des Grammofons untermalt.
Ines erhob sich von der Couch und schlich auf Zehenspitzen zur Tür.
Sie wagte nicht, hineinzusehen, sondern horchte nur.
Sie hörte den Gesang von Lucie Paulette und dazwischen das Seufzen der Uhr, als ihr Zeiger vorwärts rückte.
Dann räusperte sich jemand. Kein Mann, sondern eine Frau. Und Ines drang ein Duft in die Nase â ein Hauch Parfüm, süà und vertraut nach Aprikosen, Lavendel und schönen Erinnerungen.
Â
Am liebsten hätte Ines die Tür weit aufgerissen und wäre hineingegangen.
Aber sie entschied sich dagegen.
Ihre Hand tastete nach dem Widderhorngriff und sie zog die Tür behutsam wieder zu.
Ein Gefühl der Erleichterung breitete sich in ihr aus.
Markolf Hoffmann
Markolf Hoffmann lebt und arbeitet als freier Autor in Berlin. Seine vierbändige Fantasyreihe »Das Zeitalter der Wandlung« erschien zwischen 2004 und 2007. Außerdem hat Markolf Hoffmann zahlreiche Kurzgeschichten und Erzählungen veröffentlicht.
Copyright-Seite
Vollständige E-Book-Ausgabe der 2012 im Verlag Carl Ueberreuter erschienenen Buchausgabe.
ISBN E-Book 978-3-7090-0116-5
ISBN Printausgabe 978-3-8000-5675-0
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Übereinstimmungen und Ähnlichkeiten mit lebenden Personen oder Familien sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie das öffentliche Zugänglichmachen z. B. über das Internet.
Umschlagillustration und Umschlaggestaltung von bürosüd°, München
E-Book-Produktion durch eScriptum
Weitere Kostenlose Bücher