Ines oeffnet die Tuer
wusste, dass sie ihn nicht laut aussprechen musste, nur fest daran glauben, dass er in Erfüllung ging.
Sie ergriff die Widderhornklinke, öffnete die Tür und trat ein.
Innen war alles so, wie sie es verlassen hatte, selbst das Diktiergerät auf der Kommode. Das Kleid, die Bronzelampe und das Foto lagen auf dem Teppich, wo Ines sie fallen gelassen hatte.
Ihre leise Befürchtung, dass der alte Herr vor ihr im Refugium ankommen würde, hatte sich nicht bewahrheitet. Sicher würde er pünktlich um acht Uhr erscheinen. Auf jeden Fall blieb ihr noch etwas Zeit.
Die Uhr auf der Kommode seufzte. Der groÃe Zeiger rückte voran, das Zifferblatt schimmerte silbrig.
Ines nahm die Bronzelampe vom Boden auf. Die Kerze darin war erloschen, nur ein kleiner Wachsstummel war noch zwischen den Rillen zu erkennen.
Sie entzündete ihn mit dem Feuerzeug, das auf der Kommode lag. Dann stellte sie die Lampe auf den Fenstersims und blickte durch die Glasscheibe in den Nebel. Graue Wirbel, geheimnisvoll und trist ⦠Ines erinnerte sich daran, wie sie drauÃen herumgeirrt war, und spürte fast wieder die Nebelfetzen an den Beinen.
Beim Gedanken daran lief es ihr kalt über den Rücken.
Ob sie drüben im anderen Refugium die Kerze sehen konnten? Sie brannte so schwach und der Nebel war dichter als sonst!
Du musst eben darauf vertrauen, beschwor sich Ines. Vopelian hat das Licht in meinem Fenster immer gesehen.
Nervös nagte sie an ihren Fingernägeln, verbot es sich aber und spähte zur Tür.
Es war so ärgerlich, dass sie nicht wusste, wie viel Zeit auÃerhalb des Refugiums verstrich. War acht Uhr schon vorbei? Oder floss die Zeit drauÃen zäh wie Honig, dehnten sich dort die Minuten, während sie fieberhaft wartete?
Vor allem aber: Würde das Refugium ihren Wunsch erfüllen?
»Ich verlasse mich auf dich«, wisperte sie in den Raum.
Statt einer Antwort hörte sie ein Geräusch an der Tür.
Die Klinke bewegte sich. Die Frau mit dem wehenden Gewand schwebte herab.
Langsam öffnete sich die Tür â¦
Gebannt starrte Ines auf den Spalt, der immer gröÃer wurde. Sie erkannte drauÃen eine getünchte Wand und eine grün lackierte Tür.
Zögernd trat jemand vor. Er blieb im Türrahmen stehen und blickte Ines an.
»Hallo, Karol«, begrüÃte sie ihn.
Karol hatte dunkle Ringe unter den Augen, und das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Ines«, murmelte er.
»Wo ist dein neuer Freund?«, fragte sie kühl. »Hast du ihn nicht mitgebracht?«
Seine Augen blitzten. »Hör auf, Ines! Mir wäre lieber gewesen, du hättest mich nicht in die Sache hineingezogen.« Er deutete fahrig in den Raum. »Das alles ist ⦠gespenstisch.«
Sie senkte die Stimme. »Warum tust du das, Karol? Warum hast du dich mit diesem Mann eingelassen?«
In diesem Augenblick tauchte der alte Herr hinter Karol auf.
»Weil er ein kluger Bursche ist. Jemand, der einen guten Handel nicht ausschlägt.«
Der alte Herr trug seinen Bowlerhut. Sein faltiges Gesicht wurde von einem zufriedenen Lächeln erhellt. In den Händen hielt er Vopelians Buch, und die Knöpfe an seinem Gehrock glänzten, als wären sie aus Knochen geschnitzt.
»Ich habe ihm ein gutes Angebot gemacht«, sagte der alte Herr. »Nicht wahr, Karol? Ich versprach, dass du deinen Vater wiedersehen wirst, den du so schmerzlich vermisst.«
Karol konnte Ines nicht länger in die Augen sehen.
»Ich habe Mittel und Möglichkeiten, seinen Vater zu finden. Er wird sich bei seiner Familie melden, dafür sorge ich. Ich halte immer mein Wort.« Der alte Herr tätschelte Karols Schulter. »Und auch wir sollten einen Handel eingehen, Ines, der uns beiden zum Vorteil gereicht.«
Â
55.
Ines blickte dem Mann in die schrecklichen weiÃen Augen. Sein Lächeln war falsch.
»Wo ist mein Bruder?«, stieà sie hervor. Sie versuchte, ihre Angst nicht zu zeigen. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«
»Ich erfülle meinen Teil des Handels«, behauptete der alte Herr. »Dein Bruder wartet hier drauÃen. Du kannst ihn gerne sehen.«
Er schob Karol zur Seite und deutete in den Flur.
Ines wollte an ihm vorbei, aber der alte Herr hielt sie mit einer Hand zurück.
»Augenblick! Erst musst du deinen Teil der Abmachung erfüllen.« Er beugte sich zu Ines herab. Sein Atem roch säuerlich.
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