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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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fiel, blieb ich stehen und betrachtete sie einen Moment lang versonnen. Bei meinem letzten Besuch hatte dort Bishops Robert-Salmon-Gemälde eines Schiffes auf See gehangen. Ich ließ meinen Blick über die Wände schweifen und bemerkte, dass die Strand-Szene von Maurice Pendergast ebenfalls verschwunden war. Carl Rossetti und Viktor Golov mussten Recht haben, dachte ich. Bishop machte seine Kunstsammlung zu Geld. Diese beiden Gemälde allein konnten bei einer Auktion mehrere Millionen bringen.
    Claire Buckley betrat mit einem gefalteten Blatt Briefpapier in der Hand das Wohnzimmer. Ich kehrte zu meinem Platz auf der Couch zurück, während sie sich wieder in den Ohrensessel setzte.
    Anderson beugte sich vor und starrte auf das Blatt Papier.
    »Den habe ich beim Aufräumen in Julias Kleiderschrank gefunden«, sagte sie.
    »Im Kleiderschrank?«, bemerkte ich.
    »Was das angeht, bin ich sehr penibel. Kleiderschränke. Betten. Bücherregale. Ich finde keine Ruhe, bis alle Ecken und Winkel blitzsauber sind.«
    Ich widerstand dem Drang, eine Diagnose zu stellen. »Und was haben Sie entdeckt?«
    »Der hier war in einer Hutschachtel versteckt«, erklärte sie. »Die Schachtel schien leer zu sein, also wollte ich sie dazu benutzen, um ein paar einzelne Haarspangen und solche Dinge darin aufzubewahren, aber dann habe ich den hier gefunden.« Sie hielt den Brief hoch. »Ich habe ihn gelesen. Ich hätte es nicht tun sollen, aber ich habe es trotzdem getan.«
    »Und was steht darin?«, fragte Anderson, in dessen Stimme ein Anflug von Verärgerung mitschwang.
    »Ich weiß nicht, ob es wichtig ist«, sagte sie und atmete theatralisch tief durch. »Deshalb gebe ich ihn jetzt Ihnen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache.«
    Ich konnte Claires aufgesetztes Zaudern nicht länger ertragen, trat neben sie und streckte meine Hand aus. »Danke«, sagte ich. »Wir verstehen das.«
    Übertrieben behutsam legte sie den zusammengefalteten Briefbogen in meine Hand, als wäre er ein verletzter Vogel. Dann wandte sie den Blick ab.
    Ich setzte mich wieder auf die Couch, faltete das Blatt auseinander und betrachtete den in einer weiblichen Handschrift abgefassten Brief. Mein Blick wanderte zum Ende der Seite. Der Brief war mit »Julia« unterschrieben und mit dem 20. Juni 2002 datiert, dem Tag vor Brookes Ermordung. Mir stockte das Herz. Da Anderson mich beobachtete, bemühte ich mich um eine ausdruckslose Miene und las schweigend.
    Ich wünschte, ich wäre diese Ehe nie eingegangen. Ich bin durch meine schlimmsten Eigenschaften an sie gebunden – Angst, Abhängigkeit und – so peinlich es ist, das einzugestehen – meinen Hang zu materiellen Dingen. Und um alles noch komplizierter zu machen, sind da die Zwillinge. Darwin ist noch immer wütend wegen ihnen.
    Seit dem Tag, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, hast du mir Kraft gegeben. Ich denke unablässig an die Stunden, die wir gemeinsam verbringen. Was ich jetzt brauche, ist der Mut, alles hinter mir zurückzulassen, wie viel Leid es im ersten Moment auch bringen mag. Alles zu beenden kann auch nicht schlimmer sein als das, was wir bereits durchgemacht haben.
    Ich weine jeden Tag, ich kann nicht schlafen, esse kaum, und es fehlt mir oft die Kraft weiterzumachen …
    Außer wenn ich daran denke, dass ich dich sehen werde. Das genügt, um mir für den Augenblick Hoffnung zu geben.
    Meine Versuchung ist verstummt.
    Hier an des Lebens Ende.
    20. Juni 2002
Julia
    Mein Herz raste. Eine Woge der Übelkeit überschattete die Schmerzen in meinem Rücken. Die optimistischste Auslegung des Briefes war, dass Julia einen anderen Geliebten hatte, die nüchternste, dass sie verzweifelt genug gewesen war, den Zwillingen etwas anzutun. Die letzte Zeile des Briefes, »Hier an des Lebens Ende«, hatte einen besonders unheilvollen Unterton. Ich reichte Anderson den Brief.
    Anderson knirschte beim Lesen angespannt mit den Zähnen, während sein Blick einige Male über die Seite wanderte. Dann faltete er den Brief wieder dreimal zusammen und steckte ihn in seine Hemdtasche. »Was halten Sie davon?«, fragte er Claire.
    »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, sagte sie. »Ich war schockiert.«
    »Glauben Sie, nachdem Sie das gelesen haben, dass Julia den Zwillingen das angetan hat?«, drängte er. »Glauben Sie, dass sie Brooke ermordet hat?«
    »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sie so etwas tun würde«, erwiderte Claire, »aber mit ihren Depressionen

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