Infam
wollte Julia mir aber auch nur klarmachen, dass sie nicht damit fertig wurde, wenn ich mir unserer Beziehung nicht sicher war. Sie hatte Brooke verloren. Ihre Ehe war gescheitert. Billy würde vielleicht lebenslänglich ins Gefängnis wandern. Tess’ Gesundheit war angegriffen. War es da nicht verständlich, dass sie die Gewissheit brauchte, dass sie sich auf mich verlassen konnte? Und warum sollte ich ihr die Antwort verwehren, wo mein Herz sie doch bereits kannte? »Du hast mich nicht verloren«, versicherte ich ihr.
Sie schmiegte sich an mich, ließ ihre Finger zärtlich über meinen Rücken gleiten und hielt mich auf eine Art in ihren Armen, wie es noch nie eine Frau getan hatte – irgendwo auf dem schmalen Grat zwischen ungezügelter Sexualität und mitfühlendem Trost. Und jede dieser beiden Kräfte sprach ein entsprechendes Bedürfnis in mir an. »Verbringst du die Nacht heute bei mir?«
Sie sah zu Tess hinüber. »Ich möchte noch eine Weile hier bleiben«, erwiderte sie. »Ich nehme mir nachher ein Taxi und komme zu dir nach Chelsea.«
»Ich seh dich dann später«, sagte ich.
Ich war todmüde, dennoch beschloss ich, Lilly einen Besuch abzustatten, bevor ich das Krankenhaus verließ. Ich hatte vor, am nächsten Tag wieder nach Nantucket zu fahren, und angesichts der Fortschritte, die Lilly bereits gemacht hatte, konnte ich nicht genau sagen, wie lange sie noch als Patientin hier sein würde.
Als ich zu ihrem Zimmer kam, saß sie in einem Sessel neben ihrem Bett und starrte aus dem Fenster. Ihr blondes, lockiges Haar war mit einer schwarzen Schleife zu einem Zopf gebunden. Ich klopfte an die Tür. Lilly warf mir einen kurzen Blick zu, ehe sie wieder in die Dunkelheit hinausstarrte.
»Darf ich reinkommen?«, fragte ich.
Sie zuckte desinteressiert mit den Schultern.
Ich fühlte mich, als hätte ich etwas falsch gemacht, etwas, das Lillys Vertrauen in mich erschüttert hatte, obwohl ich mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was es gewesen sein könnte. Ich hatte nicht ihr Vertrauen verraten, indem ich mit ihrer Familie gesprochen hatte. Ich hatte noch nicht einmal ihrem Internisten oder Chirurgen ein detailliertes klinisches Gutachten über sie gegeben. Ich war jedes Mal gekommen, wenn ich es versprochen hatte. War sie noch immer verärgert, weil ich es abgelehnt hatte, sie als Patientin anzunehmen?
»
Nur weil du denkst, dass sie das Vertrauen verloren hat
«, sagte die Stimme in meinem Hinterkopf, »
muss das noch lange nicht bedeuten, dass es so ist
.«
Das stimmte. Selbst während der kürzesten Therapien ist der Psychiater eine leere Leinwand, auf die der Patient seine Gefühle gegenüber anderen wichtigen Personen in seinem Leben projiziert. Lillys Schweigen und ihre abweisende Körpersprache mochten sich gegen mich richten, konnten jedoch ebenso gut ihre Wut auf jemand anderen widerspiegeln, zum Beispiel auf ihren Mann oder ihren Großvater.
Als ich das Zimmer betrat, sah ich, dass Lilly nur noch an zwei Infusionstropfen hing. Ihr Bein war zwar noch immer in einen Mullverband gehüllt, doch die Schwellung schien zurückgegangen zu sein. Ihr Gesicht war nicht mehr ganz so blass. Sie erholte sich.
Ihre Miene verfinsterte sich, und sie atmete tief ein, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. »Dieser miese Dreckskerl«, sagte sie. »All diese Jahre. Er hat tatsächlich mein Leben verkorkst.«
Ich setzte mich in den Sessel neben ihr. »Wen meinen Sie?«, fragte ich, obgleich ich die Antwort bereits zu kennen glaubte: Lillys Verstand hatte begonnen, ihren Selbsthass in Zorn auf ihren Großvater zu kanalisieren.
Sie schüttelte den Kopf. Es sah aus, als müsste sie gegen eine Woge der Übelkeit ankämpfen. Sie schluckte. »Ich war ein kleines Mädchen«, stieß sie wütend hervor. »Er hat sich einen dabei heruntergeholt, ein Kind zu manipulieren.«
»Sie haben sich an Ihren Großvater erinnert«, stellte ich fest.
»Seine dummen Bemerkungen«, wütete sie weiter, den Blick noch immer starr geradeaus gerichtet. »Die Art, wie er mich angestiert hat.«
Ich wartete, um herauszufinden, ob sie mich an ihren Erinnerungen teilhaben lassen würde.
Sie sah mich an. Einige Augenblicke verstrichen, ohne dass ein Wort gesprochen wurde.
Ich brach das Schweigen nicht, um ihr zu vermitteln, dass es allein in ihrer Hand lag, was sie enthüllte und was sie für sich behielt.
»Meine Freundin Betsy wurde neun«, sagte Lilly schließlich. »Ich war auch neun. Ich weiß noch, wie ich mich für ihre
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