Infam
Hallisseys Einschätzung erzählt hast«, sagte ich. »Je mehr Informationen ich habe, desto besser.« Ich hielt kurz inne. »Und vielen Dank für alles, was du für Tess getan hast.«
»Bedank dich nicht, verklage das Krankenhaus, und gib mir meinen Anteil.« Er grinste in einer Weise, die mir deutlich verriet, dass er mich auf den Arm nahm. Dann beugte er sich dichter heran und senkte seine Stimme. »Ruh dich aus«, sagte er. »Du siehst aus, als würdest du gleich zusammenklappen. Und wir können es uns hier wirklich nicht leisten, dich zu verlieren.«
Ich ging über die Treppe zur Beobachtungsstation, einer Abteilung, deren Krankenzimmer alle von einem zentralen Flur abgingen. Am Schwesternzimmer fand ich Tess Bishops Zimmernummer und ging zu ihrer Tür. Julia saß an Tess’ Bett und beobachtete sie angestrengt, wie sie es schon auf der Intensivstation getan hatte. Ich lotete meine Gefühle aus, die ihr Anblick in mir auslöste. Die erwartete Anspannung war eindeutig vorhanden, ebenso wie Wut, doch diese negativen Emotionen wurden von einem anderen Gefühl überlagert, das ich nicht vorausgesehen hatte – einer seltsamen Form von Trost. Es war so, als käme man inmitten einer Familientragödie nach Hause, wenn man zwar wusste, dass etwas Schlimmes passiert war, sich jedoch gleichzeitig sicher war, dass man die Sache
gemeinsam
durchstehen würde. Leid zu teilen kann eine seltsam herzerwärmende und erfüllende Erfahrung sein.
Tess war inzwischen von den meisten der Schläuche und Kabel, die aus ihren Gliedmaßen geragt hatten, befreit worden und sah beinahe wieder wie ein normaler Säugling aus. Ihr Schlaf schien bedeutend ruhiger als auf der pädiatrischen Intensivstation. Ihre Atemzüge waren regelmäßiger und weniger angestrengt, außerdem war ihre gräuliche Gesichtsfarbe einem wesentlich gesünderen Rosa gewichen.
Julia drehte sich um und sah mich in der Tür stehen. Sie stand auf, atmete tief durch und lächelte. »Wie lange stehst du da schon?«, fragte sie.
»Ich bin gerade erst gekommen.« Ich betrat das Zimmer und deutete mit einem Nicken auf Tess. »Dr. Karlstein hat gesagt, sie sei auf dem Weg der Besserung«, sagte ich.
»Er war unglaublich«, erwiderte sie. »Ich hätte mir niemand Besseren wünschen können.« Sie sah zu Boden, dann wieder zu mir. »Darwin ist hergekommen. Zum Glück waren wir Nummer zwei auf seinem Terminkalender, wie gewöhnlich. Er hat angerufen, bevor er zu einer Vorstandssitzung bei irgendeinem Unternehmen mit Sitz hier in Boston ging. Das hat mir Zeit gegeben, zum Gericht zu fahren und ein Kontaktverbot gegen ihn verhängen zu lassen.«
»Das hat Karlstein mir auch schon erzählt«, sagte ich. »Gut gemacht.«
Sie kaute an ihrer Unterlippe und lächelte schüchtern. »Ich hätte niemals die Kraft für so etwas gehabt, wenn du nicht wärst.«
Ich wollte ihr glauben, was mir deutlich zeigte, wie sehr ich ihr verfallen war. Gerade erst hatte ich von einer anderen Affäre von ihr erfahren, und sehr wahrscheinlich war noch ein dritter Mann im Spiel, vorausgesetzt, der Brief, den Claire Buckley uns gegeben hatte, war nicht an North Anderson gerichtet. Und dennoch hatte ich das Gefühl, dass unsere Beziehung für sie einer anderen Kategorie angehörte und unvergleichbar wichtiger war. »Hast du nie
Das zauberhafte Land
gesehen?«, erwiderte ich. »Niemand kann dir Mut geben – oder ein Herz oder Verstand. Du musst es immer schon in dir gehabt haben.«
»Nimm mich in den Arm«, bat sie.
Ich trat bis auf zwei oder drei Schritte an sie heran, ehe ich stehen blieb und sie einfach nur ansah.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Wir müssen reden.«
Sie legte ihren Kopf zur Seite. »Worüber?«
»North Anderson«, antwortete ich. »Zunächst.«
Sie nickte, als hätte sie gewusst, dass dieser Moment irgendwann kommen würde. »Er hat dir erzählt, dass wir ein wenig Zeit zusammen verbracht haben«, sagte sie.
»Ja«, bestätigte ich. Ich erwähnte noch nichts von dem Foto.
»Und ich hoffe, er hat dir gesagt, dass nichts passiert ist«, sagte sie. »Denn es ist nichts passiert. Ich meine, wir haben nicht …«
»Aber ihr habt euch nahe gestanden, gefühlsmäßig, meine ich«, sagte ich. »Und vielleicht tut ihr das immer noch. Ich weiß es nicht.«
»Nein«, erklärte sie. »Das tun wir nicht. Nicht in der Weise, wie du denkst. Ich mag ihn immer noch, aber es ist wirklich nur Freundschaft.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Na gut«, sagte ich wenig
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