Infam
Entlassung nicht ganz allein bin.«
»Sie werden immer besser damit zurechtkommen«, versicherte ich ihr. »Aber, ja. Ich werde vorbeikommen, bevor Sie entlassen werden.«
17
Ich nahm mir ein Taxi zurück nach Chelsea und trat um 21 Uhr 17 durch die Tür meines Lofts. Um 21 Uhr 22 hatte ich mir von der Telefonauskunft bereits die Nummer von Dr. Marion Eisenstadt besorgt und die Angestellte ihres Telefondienstes überredet, sie über ihren Pieper zu rufen. Ich musste mehr als fünf Minuten warten.
»Dr. Eisenstadt«, meldete sie sich schließlich. Ihre Stimme klang jünger, als ich erwartet hatte.
»Ich bin Dr. Frank Clevenger aus Boston«, stellte ich mich vor. »Ich bin Psychiater und betreue die Bishop-Familie.«
»Ja?«
»Ich rufe an, um …«
»Sie sind forensischer Psychiater«, unterbrach sie. »Ist das hier eine polizeiliche Ermittlung?«
Es ist nicht immer ein Vorteil, wenn einem der eigene Ruf vorauseilt. »Nicht offiziell«, schränkte ich ein. »Die Bishops haben mir erlaubt, ein Gutachten über ihren Sohn Billy zu erstellen. Jetzt versuche ich, so viel wie möglich über die gesamte Familie herauszufinden, um mir ein vollständiges Bild von ihm machen zu können, wenn ich bei seinem Prozess aussage.«
»Gut«, sagte Eisenstadt abwartend.
»Und Julia Bishop hat mir erzählt, Sie hätten sie behandelt. Es war ihr Vorschlag, Sie anzurufen.«
Sie zögerte, bevor sie antwortete. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen ohne eine schriftliche Einverständniserklärung von Ms. Bishop viel sagen kann.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zuerst einmal gab es Dr. Eisenstadt tatsächlich. Zum Zweiten war Julia eindeutig ihre Patientin. »Das verstehe ich voll und ganz«, sagte ich. »Wir hatten bislang keine Zeit für all diese Formalitäten. Sie wissen wahrscheinlich, dass Billy noch immer auf der Flucht ist. Ich hatte telefonisch Kontakt mit ihm. Alles, was Sie mir sagen, kann mir helfen – sowohl um ihn jetzt zur Aufgabe zu überreden als auch später bei seinem Prozess.«
»Zum Beispiel …?«
»Zum Beispiel, wie er sich Ihrer Ansicht nach in die Familiendynamik einfügt«, sagte ich, um von meinem eigentlichen Anliegen abzulenken. »Ist Ms. Bishop schon lange bei Ihnen in Behandlung?«
»Sporadisch«, antwortete Eisenstadt, noch immer zurückhaltend.
»Während des Sommers ist sie natürlich auf Nantucket«, sagte ich.
Wieder verstrichen einige Augenblicke. »Ich denke, das ist nur ein Grund für ihre seltenen Besuche. Wir haben uns insgesamt vier-, vielleicht fünfmal gesehen, würde ich sagen. Aber das ist auch wirklich schon alles, was ich Ihnen erzählen kann.«
Mein Vertrauen in Julias Geschichte schwand augenblicklich. Ich setzte mich hin. »Ich wusste nicht, dass es so selten war«, sagte ich. »Vielleicht sind Sie trotz allem der Ansicht, dass Sie sie gut genug kennen, um …«
»Sobald Sie besagte Einverständniserklärung haben, bin ich gern bereit, Ihnen Einsicht in ihre Unterlagen zu geben.«
»Würde das ihre Briefe einschließen?«, fragte ich, in der Hoffnung, sie aus der Reserve zu locken.
Eisenstadt schwieg.
»Ms. Bishop hat erwähnt, sie hätte Ihnen von Zeit zu Zeit geschrieben«, fügte ich hinzu. Ich konnte hören, wie mein Tonfall in den eines Ermittlers abglitt, was auch Dr. Eisenstadt nicht entging.
»Ohne schriftliche Erlaubnis eines Patienten kann ich die Existenz irgendeines speziellen Teils der Behandlungsunterlagen weder bestätigen noch verneinen«, erklärte sie tonlos. »So lautet das Gesetz. Ich bin sicher, Sie sind damit vertraut.«
»Das verstehe ich«, sagte ich und änderte die Taktik. »Soll ich Ms. Bishop die Freigabe der Briefe gesondert gestatten lassen, oder genügt eine allgemeine Einverständniserklärung?«
»Ich kann nichts weiter dazu sagen«, erwiderte sie fast eisig.
»Selbstverständlich. Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich melde mich wieder.«
»Gern geschehen. Ich spreche jederzeit gern wieder mit Ihnen.« Sie legte auf.
Ich stand mit dem Hörer in der einen Hand da und rieb mir mit der anderen die Augen. Es schien unvorstellbar, dass Julia in nur vier oder fünf Therapiestunden eine so enge Beziehung zu Dr. Eisenstadt aufgebaut hatte, um schreiben zu können, die Therapeutin gäbe ihr »Kraft«, sie müsse »unablässig« an ihre gemeinsam verbrachten Stunden denken und fände nur den Willen zum Weiterleben, wenn »ich dich sehe«. Darüber hinaus war Dr. Eisenstadt eine Frau – das falsche Geschlecht, um bei Julia eine solche Intimität
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