Infam
hätten nur vier oder fünf Therapiestunden zusammen gehabt.«
»Und?«
»Und Julias Brief klingt wie etwas, das man einem Therapeuten nach vier oder fünf Therapiestunden
pro Woche
schreibt, und zwar nach vielen, vielen Wochen.«
»Stimmt«, bestätigte er. »Aber vergiss nicht, mit wem wir es hier zu tun haben.«
»Soll heißen?«
»Julia weckt unglaublich starke Gefühle in Menschen, und zwar unglaublich schnell. Vielleicht funktioniert das in beiden Richtungen.«
»Du meinst, sie baut ebenso schnell eine enge Bindung zu ihrem Therapeuten auf? Spontane Übertragung?«
»Du bist der Psychiater«, sagte Anderson, »aber es scheint durchaus möglich.«
»Möglich ist es schon«, pflichtete ich bei. »Aber wahrscheinlicher ist, dass es ein Liebesbrief an einen anderen Mann war.«
»Ein Mann, mit dem wir uns dringend unterhalten sollten«, sagte er.
»Wenn wir je herausfinden, wer er ist.«
Anderson schwieg einen Moment lang. »Plötzlich fühlt man sich gar nicht mehr so einzigartig, stimmt’s?«
»Nein. Du hast Recht«, bestätigte ich, obwohl ich es nicht wirklich glaubte. Ich klammerte mich tatsächlich noch immer an die vage Chance, dass Julia eine Frau mit einer komplizierten Vergangenheit war, die sich für eine Zukunft mit mir entschieden hatte. Ich wollte ihr verzeihen – fast alles.
»Fährst du noch mal zum Krankenhaus, um mit ihr zu reden?«, fragte er. »Ich würde zu gern wissen, was sie zu sagen hat, wenn du ihr erzählst, dass du mit ihrer Ärztin gesprochen hast.«
Ich wollte ihm nicht sagen, dass Julia auf dem Weg zu mir war. »Ich werde sie schon auf die eine oder andere Weise sehen«, sagte ich. Das klang nicht besonders toll, selbst in meinen eigenen Ohren.
»Es ist deine Entscheidung«, sagte Anderson. »Sei nur immer auf der Hut. Letztes Mal hattest du Glück. Du könntest tot sein.«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen.« Ich verstummte, als ich bemerkte, dass sich abermals ein Anflug von Paranoia in meine Gedanken stahl. Ich konnte an seinem Tonfall nicht erkennen, ob er mich warnte oder mir drohte.
Letztes Mal hattest du Glück. Du könntest tot sein
. »Kannst du für morgen früh um acht ein Gespräch mit Billy für mich arrangieren?«, fragte ich.
»Kein Problem«, versprach er.
»Wir hören voneinander«, sagte ich und legte auf. Ich war körperlich und emotional erschöpft. Ausgelaugt. Ich schloss erneut die Augen.
Ich schreckte aus dem Schlaf hoch und wusste einen Moment lang nicht, wo ich war. Ich sah auf meine Uhr – 1 Uhr 20, und Julia war noch immer nicht hier. Ich rief im Mass General an, um herauszufinden, ob sie noch auf der Beobachtungsstation war.
Die Stationssekretärin meldete sich. »Dr. Frank Clevenger hier«, sagte ich. »Ich wollte fragen, ob Mrs. Bishop zufällig noch bei ihrer Tochter ist?«
»Können Sie kurz dranbleiben?«
»Natürlich.«
Fast eine Minute verstrich. Langsam wurde ich nervös und fragte mich, ob etwas mit Tess passiert war, als John Karlstein an den Apparat kam. »Frank?«
»Ich bin noch dran.« Ich war mir nicht sicher, ob er Tess auch außerhalb der Intensivstation weiterbetreute, doch mir war klar, dass seine Anwesenheit nichts Gutes verhieß.
»Es gab hier unten ein kleines Problem mit Tess«, sagte Karlstein. »Ich war noch hier, um ein paar Dinge zu erledigen, also bin ich vorbeigekommen.«
Ich schloss die Augen. »Was für ein Problem?«
»Ihre Atmung hat sich verlangsamt. Die Atemfrequenz ging runter auf acht, die Sauerstoffkonzentration in ihrem Blut fiel auf siebenundsiebzig. Ich wollte ihr keine Sauerstoffmaske aufsetzen, weil ich Angst hatte, dass wir damit den Atemreflex gänzlich unterbinden würden. Zwanzig Minuten lang konnten wir nur mit angehaltenem Atem warten, genau wie sie. Dann hat sich alles langsam wieder normalisiert. Inzwischen geht es ihr wieder gut, die Sauerstoffsättigung ist rauf auf fünfundneunzig.«
»Wie ist das passiert?«
»Ich weiß es nicht, ganz ehrlich«, sagte er. »Möglicherweise hat sie einen begrenzten neurologischen Schaden zurückbehalten, der irgendwie ihre Atemfrequenz beeinträchtigt. Es könnte auch sein, dass das Nortriptylin nicht das einzige Gift in ihrem Blutkreislauf war, als sie eingeliefert wurde. Oder es könnte eins dieser Dinge sein, die aus heiterem Himmel passieren, vor denen ich dich ja schon gewarnt hatte. Patienten, die einen Herz- oder Atemstillstand hatten, neigen dazu, noch einen zu bekommen.«
»Ist Julia Bishop bei ihr?«, fragte ich und hängte
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