Infam
ein.
»Vielleicht zeige ich Ihnen irgendwann mal etwas von dem, was ich geschrieben habe«, sagte Garret zaudernd.
»Ich würde sehr gern etwas von dir lesen«, versicherte ich.
Er schaute aus dem Fenster, dann sah er wieder zu mir. »Sie braucht einfach Zeit – und Freiraum. Vielleicht ist es gut, dass Sie mit Billy zu diesem Riggs Center fahren.«
»Ich möchte dir dafür danken, dass du ihn überredet hast, dorthin zu gehen«, sagte ich. »Es ist die richtige Entscheidung. Glaubst du, du kannst hier für ein, zwei Wochen allein die Stellung halten?«
»Kein Problem.«
»Tut mir Leid, dass wir dir Angst gemacht haben – deine Mom und ich«, sagte ich.
»Kein Problem«, erwiderte er. »Ich werde nie wieder solche Angst haben müssen wie früher.«
Ich verließ Garrets Zimmer kurz vor 1 Uhr früh. Als ich an Billys Zimmer vorbeikam, ging gerade sein Licht aus. Hatte er gelauscht, oder hatten Garret und ich ihn einfach nur wach gehalten, weil wir uns zu laut unterhalten hatten?
Bevor ich das Haus verließ, betrachtete ich die Spielsachen, die Candace in der Vitrine aufgestellt hatte. Ein kleiner Aufzieh-Bär mit Messingzimbeln fiel mir ins Auge. Ich konnte mir ohne weiteres vorstellen, wie Julia als Kind stundenlang mit ihm gespielt hatte. Ich lächelte, während ich mir ausmalte, wie begeistert sie gewesen sein musste, als sie ihn zum ersten Mal aufgezogen und seine Bewegungen beobachtet hatte. Wie einfach sie damals doch zu befriedigen gewesen war.
Mich fröstelte. Denn tief in meinem Herzen wusste ich, ohne genau zu wissen, warum, dass sich alles in Auflösung befand und sie niemals mir gehören würde.
Mein Schlaf in jener Nacht war unruhig und von ständigen Unterbrechungen gestört. Jedes Mal, wenn ich aufwachte, hatte sich eine andere Erinnerung an Julia, Darwin oder die Jungs in meinem Gedächtnis festgesetzt. Vor meinem geistigen Auge sah ich meine erste Begegnung mit Julia vor der Bishop-Villa und unser Mittagessen im Bomboa in Boston. Ich dachte an meine Unterhaltung mit Billy in der geschlossenen Abteilung des Payne Whitney zurück, an mein Wortduell mit Darwin bei Brookes Beerdigung, an Anderson und mich bei der Durchsuchung von Garrets Spind im Brant Point Racket Club. Ich erinnerte mich abermals an Claire Buckleys Verhalten, als sie North Anderson und mir den mysteriösen Brief übergeben hatte. Und ich ließ noch einmal Andersons und meine Unterhaltung mit ihr im Mass General nach dem Überfall auf sie Revue passieren. Die Schlafphasen zwischen den Erinnerungen wurden immer kürzer, die Bilder immer lebendiger. Es war, als spulte mein Verstand noch einmal die letzten drei Wochen ab, auf der Suche nach einem Fenster zum Familiengeheimnis der Bishops.
Um 3 Uhr 47 öffnete sich jenes Fenster sperrangelweit und ließ einen eisigen Wind herein, der mich im wahrsten Wortsinn erschauern ließ. Ich setzte mich mit einem Ruck im Bett auf. Mein Verstand war augenblicklich hellwach von einer Erinnerung, die nicht Tage oder Wochen, sondern nur wenige Stunden zurücklag. Es war etwas, das ich im Haus gesehen hatte, und es mutete wie ein unerwartetes, abnormales Laborergebnis für einen Patienten an, das besagt, dass ein längst überwunden geglaubtes Krebsgeschwür still und heimlich den Knochen und das Mark zerfressen hat.
Eine ganze Gedankenkette spulte sich in meinem Kopf ab. Angestrengt starrte ich in die Dunkelheit, während ich versuchte, die Punkte zu einem ausgesprochen hässlichen Bild zu verbinden. Einem fast undenkbaren Bild. Ich fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. Die Gedanken kamen immer schneller und wirbelten durch die Nacht. Mir war übel und schwindelig.
Erst zwei Stunden später kehrte ich ins Bett zurück, doch von Schlaf war keine Rede. Ich war nicht mehr davon überzeugt, dass Darwin Bishop die kleine Brooke umgebracht hatte. Stattdessen wuchs in mir die Gewissheit, dass jemand anders der Mörder war. Jemand, dem ich vertraut hatte. Und zwar aus Motiven, die mich gleichermaßen mit Mitleid und Abscheu erfüllten.
Ich war in kalten Schweiß ausgebrochen. Wenn ich Recht hatte, dann hatte diese Person es immer noch auf Tess abgesehen, die in ihrem Kinderzimmer schlief, keine fünfzig Meter von meinem Gästehaus entfernt.
Die Gedanken kreisten bis Sonnenaufgang in meinem Kopf, während ich eine Strategie ersann, den Mörder zu entlarven. Es war eine Strategie der psychologischen Kriegsführung, die darauf abzielte, die emotionalen Schutzwälle der betreffenden Person mit einem
Weitere Kostenlose Bücher