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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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Streckverband hing, und sah, dass ein weiterer Einschnitt gemacht worden war, um die Drainage des Abszesses zu erleichtern.
    »Es ist mein Herz«, erklärte sie matt.
    Das bedeutete, dass die Infektion zu ihrem Herzen gewandert war, vermutlich zum Herzbeutel oder zu den Klappen tief in den Kammern. Doch ich verstand ihre Worte auch in einer anderen Bedeutung – das psychologische Trauma, das sie dazu veranlasst hatte, sich selbst Schmutz zu injizieren, hatte den Mittelpunkt ihres Wesens erreicht, sodass das emotionale Gift jetzt mit dem Blut in jedes Gewebe gepumpt wurde, wobei es lediglich ihr zentrales Nervensystem verschonte, das von einem Wall aus Membranen, der so genannten Blut-Gehirn-Schranke, geschützt wird. Die Fronten waren endlich klar gezogen: Was immer Lilly als kleines Mädchen passiert war, hatte nunmehr den Zermürbungskrieg gegen das Königreich ihres Körpers begonnen, sodass Lilly als letzter Verteidigungswall – und mein stärkster Verbündeter – nur die Seele und ihre wunderbare Fähigkeit zur Heilung blieb.
    Mir fiel auf, dass während meiner drei Besuche nie jemand anders bei ihr gewesen war. Münchhausen-Patienten enden oftmals in völliger Isolation; Familie und Freunde ziehen sich erzürnt zurück, wenn sie erfahren, dass sie sich um einen Menschen gesorgt haben, der seine Erkrankung selbst herbeigeführt hatte. Eine Woge der Traurigkeit – und, seltsamerweise, Verlegenheit – wallte in mir hoch. Der Gedanke, dass Lilly so schrecklich litt, so ganz ohne eine tröstende Hand, rührte mich zutiefst.
    »Die Traurigkeit und die Scham, die du empfindest, sind ihre Gefühle, nicht deine«,
flüsterte die Stimme in meinem Hinterkopf.
»Hilf ihr, sie anzunehmen.«
    »Bei meinem letzten Besuch haben Sie mir erzählt, welche Angst Sie vor dem Alleinsein haben«, begann ich. »Woher stammt diese Angst Ihrer Meinung nach?«
    Sie räusperte sich. »Vermutlich daher, dass ich meinen Vater verloren habe«, antwortete sie, schloss die Augen, ehe sie sie ganz langsam wieder öffnete. »Er fehlt mir immer noch. Ich denke jeden Tag an ihn, seit ich sechs war.«
    »Gibt es jetzt Menschen, die Sie lieben?«, fragte ich.
    »Ja, natürlich. Meinen Mann. Meine Mom und meine Großeltern. Ein paar gute Freunde.«
    Ich beugte mich dichter heran und beschloss, darauf zu spekulieren, dass sich Lillys Angst vor dem Alleinsein in eine noch überwältigendere Angst vor dem Tod übertrug. »Dies ist ein sehr entscheidender Moment, Lilly«, sagte ich leise. »Die Infektion ist zu stark für Ihr Abwehrsystem. Sie können sterben. Und das bedeutet, dass Sie sich von Ihrem Mann und Ihrer Mutter und all Ihren Freunden verabschieden müssen. Es bedeutet, dass Sie völlig allein sein werden.« Sie schien mir genau zuzuhören. »Der einzige Weg, mit den Menschen zusammenzubleiben, die Sie lieben, ist, sich ihnen zu öffnen und die Wahrheit herauszulassen. Wenn Sie das tun, wird all der Druck, unter dem Sie stehen, nachlassen, und Ihr Körper wird anfangen, sich selbst zu heilen, denke ich.«
    Sie wandte den Blick ab und schüttelte den Kopf. Einige Augenblicke verstrichen. Ich saß schweigend da. Eine weitere Minute verstrich. Ich war bereit, ein weiteres Wagnis einzugehen, indem ich Lilly sagte, dass ich wusste, dass sie sich selbst Schmutz injiziert hatte. Doch in diesem Moment drehte sie sich unvermittelt wieder zu mir um. Tränen traten in ihre Augen. »Ich hab das getan«, flüsterte sie.
    »Sagen Sie mir, was Sie damit meinen«, leitete ich sie sanft an.
    »Ich habe eine Spritze genommen und mir … Ich habe die Infektion herbeigeführt. Ich habe mir das selbst angetan.«
    Ich nickte. »Ich verstehe«, sagte ich.
    Sie fing an zu weinen.
    »Ich verstehe«, wiederholte ich. Ich wartete, während sie sich die Tränen trocknete. »Können Sie mir sagen, warum Sie es getan haben?«, fragte ich.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Ich schäme mich so sehr.«
    »Sie weiß es ganz genau. Frag sie, warum sie sich schämt«,
sagte die Stimme.
    »Passiert etwas mit Ihnen, wenn Sie sich die Spritze setzen? Sind da Erinnerungen, die Sie quälen?«
    Diesmal zögerte sie nicht. »Ich tue es, wenn ich mich schmutzig fühle«, erklärte sie. »Ich tue es, um mich zu bestrafen.«
    »Und was gibt Ihnen das Gefühl, schmutzig zu sein?«
    »Nichts«, antwortete sie kaum hörbar.
    »Ich werde es nie jemandem verraten«, versprach ich.
    Sie sah mir in die Augen und schien abzuwägen, ob sie mir wirklich trauen konnte. »Ich habe böse

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