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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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Gedanken«, sagte sie schließlich. »Schreckliche Gedanken.«
    »Erzählen Sie mir davon.«
    Sie schwieg.
    »Lilly, Sie müssen die Wahrheit herauslassen. Sie dürfen nicht länger Ihr Immunsystem damit belasten. Sie brauchen es, um mit den Menschen zusammenzubleiben, die Ihnen am Herzen liegen.«
    »Ich denke …« Sie verstummte.
    »Diese Menschen wollen Sie nicht verlieren«, sagte ich. »Sie wollen nicht Lebwohl sagen müssen.«
    »Ich denke an meinen Großvater.«
    »Weshalb an ihn?«, fragte ich. »Wie genau sehen diese Gedanken aus?«
    »Ich denke an mich … mit ihm.« Sie schloss die Augen erneut und schüttelte den Kopf. »Wie ich ihn berühre. Wie er mich berührt.«
    »Waren Sie Ihrem Großvater je in dieser Weise nah? Körperlich?«
    »Nie.« Sie schlug die Augen auf und starrte an die Decke. »Das ist ja das Seltsame daran.« Sie sah mich an. »Ich bin mir sicher, dass er so etwas nie getan hat.« Auf ihrem Gesicht spiegelte sich tiefe Verwirrung wider. »Es ist so abscheulich, in dieser Weise an ihn zu denken.«
    »Und es sind diese Gedanken, die Sie dazu bringen, sich die Spritze zu setzen«, hakte ich nach.
    »Ich würde es in diesem Moment machen, wenn ich könnte«, gestand sie. »Dann würde ich mich so viel besser fühlen.«
    »Um sich selbst zu bestrafen«, sagte ich.
    »Ja. Die Gedanken würden aufhören.«
    Da war es also, der Erreger, der Lillys Herz angriff. Er hatte die Form eines Bakteriums angenommen, doch er war eine Ausgeburt von Lillys Psyche. Ihre Schuldgefühle – und ihre Infektion – entstammten ihren sexuellen Gefühlen für einen Mann, der nach dem Tod ihres Vaters für sie gesorgt hatte. Die einzige noch offene Frage war, was dieses Verlangen hervorgerufen hatte. War sie das Opfer sexuellen Missbrauchs, dessen Erinnerung sie später verdrängt hatte? Oder gab es eine andere Erklärung? »Sie müssen bereit sein, den Schmerz voll und ganz zu fühlen, ohne ihn mit einer Spritze zu vertreiben«, sagte ich. »Wenn Sie tapfer genug sind, das zu tun, dann wird sich der Druck auflösen. Die Infektion hat dann keine Chance zu gewinnen. Sie kann sich nicht vor Ihrem Immunsystem verstecken.«
    »Ich möchte es versuchen«, erklärte sie. »Das möchte ich wirklich.«
    »Gut.«
    »Werden Sie mir helfen?«, fragte sie.
    »Ich habe Ihnen versprochen, dass ich Ihnen beistehen werde«, sagte ich. »Und das habe ich ernst gemeint.«
    Knapp zwanzig Minuten vor meiner Verabredung mit Julia Bishop traf ich im Bomboa ein. Das Restaurant war ungewöhnlich voll für die Mittagszeit, aber ich war hier Stammgast, und Johnny Mascia, einer der Besitzer, bot mir meinen üblichen Tisch am Fenster an. Ich erklärte ihm, ich hätte lieber einen abgeschiedenen Tisch weiter hinten und würde an der Bar auf meinen Gast warten.
    Er sah mich besorgt an. »An der Bar? Das ist ja was ganz Neues.«
    Ich hatte oft genug allein im Bomboa gegessen, sodass Johnny inzwischen meine gesamte Lebensgeschichte in Zwei-Minuten-Fortsetzungen gehört hatte. Er war ein schlanker Italiener Ende dreißig mit markanten Zügen und einem Lächeln, das ihm ein volles Restaurant garantieren würde, selbst wenn das Essen nur mittelmäßig wäre. Doch die Küche gehörte zu den besten in Boston, und Johnny verdiente sich eine goldene Nase. Er fuhr sich mit den Fingern durch sein dickes schwarzes Haar. »Ich dachte, die Bar wäre tabu.«
    »Ich bleibe bei meinem Stammgetränk«, versicherte ich ihm. »Kaffee.«
    »Dann fühl dich wie zu Hause.« Er begleitete mich zur Theke und winkte den Barmann heran. »Kaffee für den Doktor«, sagte er.
    »Du sorgst wirklich wunderbar für mich«, bemerkte ich.
    »Jemand sollte das rund um die Uhr tun, mein Freund«, erwiderte er. »Jemand, der bedeutend hübscher ist als ich.« Er klopfte mir auf den Rücken. »Denn lass uns ehrlich sein, du bist nicht gerade berühmt dafür, dass du gut auf dich selber aufpasst.« Er schenkte mir besagtes Lächeln, ehe er wieder zu seinem Posten an der Tür zurückkehrte.
    Die Bar war gut acht Meter lang, gesäumt von jeder vorstellbaren Sorte von Spirituosen, die allesamt vor einer verspiegelten Rückwand aufgereiht standen. Ich konnte mein Spiegelbild sehen, eingerahmt von Flaschen mit Gin und Scotch und Wodka. Das Bild gefiel mir nicht, was mich jedoch nicht davon abhielt, verstohlen einen Sambuca zu bestellen, als der Barmann meinen Kaffee brachte.
    Er kam nicht wieder zurück, sondern verschwand zuerst für ein paar Minuten in der Küche und wusch dann

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