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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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Flüssigkeit gegen die farbigen Lichter. Das Glas leuchtete rostblau, rostrot, rostlila. Ein zauberhafter Regenbogen der Ruhe. Ich hob das Glas an meine Lippen, roch das Aroma meines Vaters, schmeckte seinen warmen, alkoholisierten Atem. Dann legte ich meinen Kopf in den Nacken, warf einen Blick auf die Tänzerin und bemerkte, dass sich über ihren Unterleib eine Kaiserschnittnarbe zog.
    Ein Teil von mir verlangte nach Betäubung, wollte die chemischen Boten in meinem Gehirn in die Irre schicken, die Bilder von Grausamkeiten verwischen, die durch meinen Kopf schwirrten. Weil sie zu schonungslos waren. Schonungslos genug, um schweren Schaden zu verursachen. Doch ein anderer Teil von mir begann sich zu fragen, wo wohl das Kind der Tänzerin in diesem Moment war. Beim Großvater? Bei ihrem Freund? Allein zu Hause? Tot? Ich starrte sie an, während sie ihre Knie umfasste, um ihre Schenkel noch weiter zu spreizen, den Kopf zur Seite gewandt, die Augen geschlossen.
    Ich stellte mein Glas ab, ohne einen Tropfen getrunken zu haben.
    »Ist das eine scharfe Braut oder was?«, rief der Mann mit den Fünf-Dollar-Scheinen zu mir herüber. Er war um die vierzig, besaß die Statur eines Gewichthebers und trug ein New-England-Patriots-Footballhemd und eine schwarze Nylon-Mütze.
    »Das ist sie«, erwiderte ich.
    »Was für ein Arsch«, sagte er.
    »Was für ein Arsch.«
    »Du bist Schweißer, stimmt’s?«, fragte er.
    Ich vermutete, dass ich das in gewisser Hinsicht tatsächlich war, doch ich glaubte nicht, dass er mit einer eleganten Metapher dafür aufwartete, Leute wieder zusammenzusetzen. »Nein«, sagte ich. »Warum fragen Sie?«
    »Hast du nicht auf der neuen Chelsea High School gearbeitet? Geschweißt?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich bin Psychiater.«
    Er lachte schallend. »Klar«, gab er zurück. »Ich auch.« Er griff in seine Tasche und holte weitere Fünf-Dollar-Scheine heraus.
    Ich hielt mein Glas mit beiden Händen umfasst, starrte in die bernsteinfarbenen Tiefen und konnte noch immer meinen Vater riechen, hörte das
Klink
seiner Gürtelschnalle, als sie geöffnet wurde. Ich dachte an die unzähligen Male zurück, als ich ihn hatte umbringen wollen. Und fragte mich, was mich davon abgehalten hatte. Warum hatte ich es nicht über mich gebracht, ihn kaltzumachen? Was bringt einen Menschen dazu, diese Schwelle zu überschreiten? War das die Frage, die mich zur Forensik gezogen hatte? War es diese Frage – und nicht North Andersons eindringliche Bitte –, die mich erneut in das Umfeld von Mord geführt hatte?
    Ich schob meinen Scotch beiseite, winkte die Kellnerin heran und bestellte einen Kaffee und eine Diät-Cola. Wie es aussah, würde es eine lange Nacht werden.
    Es war kurz nach drei Uhr früh, als ich mich endlich ins Bett legte. Ich spürte die Leere der großen Matratze um mich herum. Ich fühlte mich gefährlich allein.
    Natürlich war ich immer allein gewesen. Isoliert. In Gefahr. Doch jetzt fühlte sich diese Gefahr besonders real an. Weil ich Carl Rossettis Worte nicht einfach abtun konnte: Darwin Bishop konnte großen Ärger bedeuten – größeren Ärger, als ich je in meinem Leben gehabt hatte. Ein Mann, der gierig und fähig genug war, eine Milliarde Dollar anzuhäufen, kann eine Menge Dinge verschlingen. Ich schob mich zur Bettkante und legte meine Hand auf die Browning Baby Halbautomatik, die hinter dem Bettgestell steckte. Und mit der Faust voll kaltem Stahl als Trostspender sank ich schließlich in einen ruhelosen Schlaf.
    Er währte nicht lange. Nicht einmal zwei Stunden später weckte mich das Telefon. Ich tastete nach dem Hörer, ließ ihn beim ersten Versuch fallen und sagte schließlich: »Clevenger.«
    »Frank, ich bin’s, North.«
    Ich sah auf meinen Wecker. »Es ist zehn vor fünf.«
    »Das weiß ich«, sagte er. »Ich würde nicht anrufen, wenn es kein Notfall wäre.«
    Ich setzte mich im Bett auf. »Was ist passiert?«
    »Billy ist vor zweieinhalb Stunden aus Payne Whitney ausgebrochen.«
    Ich erstarrte. »Ausgebrochen? Wie?«
    »So unglaublich es klingt, er ist einfach aus der Notaufnahme hinausmarschiert. Er hatte über Husten geklagt. Sie haben ihn mit einem Pfleger runtergeschickt, um seine Brust röntgen zu lassen. Wie es aussieht, hat ihn der Bursche irgendwie aus den Augen verloren.«
    Es fiel mir nicht schwer, das zu glauben. In psychiatrischen Abteilungen, die nicht für Gewalttäter eingerichtet sind, gibt es keine festgelegten Sicherheitsmaßnahmen. Ich hatte mit eigenen Augen

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