Infam
Gläser in der Spüle ab. Ich fragte mich, ob ich meine Bestellung so leise geflüstert hatte, dass er mich nicht verstanden hatte. Aber da ich nicht nachdrücklicher nach Schnaps verlangen wollte, verhielt ich mich still.
Ich trank gerade den Rest meines Kaffees aus, als ich Julia Bishop im Spiegel erspähte. Mein Herz pochte wie das eines Schuljungen. Sie trug einen hauchdünnen, schulterfreien schwarzen Kaschmirpullover und eine enge schwarze Hose mit leicht ausgestelltem Bein. Schwarze Sandalen mit Stilettoabsätzen ließen sie größer wirken, als ich sie in Erinnerung hatte, so als wäre sie geradewegs den Seiten von
Vogue
entstiegen. Ich schaute mich im Restaurant um und bemerkte, wie sich die Leute nach ihr umdrehten, Johnny eingeschlossen.
Sie kam zu mir herüber. »Ich bin froh, dass Sie Zeit hatten, sich mit mir zu treffen«, sagte sie.
»Kein Problem«, erwiderte ich und schwebte abermals in jenem himmelblauen Nebel, der mich bei unserer ersten Begegnung umfangen hatte. Ich war wie entrückt in Julias Gegenwart, sodass selbst meine eigenen Worte wie ein bloßes Echo in meinen Ohren klangen.
»Ich glaube, ich habe keine zehn Stunden geschlafen, seit Brooke … Und jetzt ist auch noch Billy verschwunden.« Sie presste ihre Lippen zusammen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Julias Parfüm war berauschender als jeder Sambuca. »Wir können in Ruhe über alles reden«, sagte ich. »Sie haben uns einen Tisch weiter hinten reserviert. Dort sind wir ungestörter.«
Wir setzten uns an den Tisch. Julia bestellte eine Flasche Mineralwasser und erklärte, sie hätte keinen Appetit, was verständlich war. Doch in Kombination mit der Schlaflosigkeit machte ich mir Sorgen, dass sie vielleicht in eine weitere Depression abgleiten könnte. Ich bestellte eine Vorspeisenplatte, um den Kellner zufrieden zu stellen.
»Ich konnte nicht offen sprechen, als Sie bei uns waren«, begann sie, »aber es gibt so vieles, das Sie über Billy wissen müssen. Ich denke, einiges davon könnte entscheidend sein, wenn er vor Gericht gestellt wird. Jemand muss dem Richter begreiflich machen, was er durchgemacht hat.«
»Alles, was Sie mir erzählen können, hilft«, sagte ich.
»Ich bin sicher, mein Mann hat Ihnen Billys Vergangenheit in Russland geschildert.«
Es gefiel mir nicht, sie die Worte
mein Mann
benutzen zu hören. »Das hat er. Er hat Chief Anderson und mir erzählt, dass Billy Zeuge des Mordes an seinen leiblichen Eltern gewesen ist und dann im Waisenhaus misshandelt wurde.«
Sie musste sichtlich allen Mut für das zusammennehmen, was sie als Nächstes sagen wollte. »Ich bezweifle allerdings, dass Darwin Billys Trauma seit seiner Ankunft in diesem Land erwähnt hat.«
»Das hat er nicht«, bestätigte ich.
Sie schluckte. »Darwin ist nicht der Mann, für den Sie ihn vielleicht halten. Er ist sehr intelligent. Er kann bemerkenswert charmant sein, aber er ist auch sehr herrschsüchtig. Und er kann grausam sein.«
Ich beschloss, nicht zu erwähnen, dass Billy mir die Striemen auf seinem Rücken gezeigt hatte. Ich wollte aus erster Hand von Julia hören, ob sie glaubte, dass Darwin Bishop zu körperlichen Misshandlungen neigte. »Grausam in welcher Hinsicht?«, fragte ich.
»Seine Anforderungen an die Jungs sind völlig überzogen«, antwortete sie. »Er erwartet von ihnen, perfekt zu sein – in der Schule, im Sport, zu Hause. Abgesehen von Stolz und Selbstvertrauen, betrachtet er jegliches Gefühl als ein Zeichen von Schwäche.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein Sohn Garret tritt heute bei einem Tennisturnier an, gegen seinen Willen«, sagte sie. »Er hat seinen Vater angefleht, ihm zu erlauben abzusagen. Er ist verständlicherweise außer sich wegen des Babys. Und er macht sich Sorgen, weil Billy aus der Klinik weggelaufen ist. Win wollte nichts davon hören, dass er nicht beim Turnier antritt.«
»Garret hat sich nicht gegen ihn aufgelehnt?«
»Niemals«, sagte sie. »Das ist der Unterschied zwischen Garret und Billy. Garret würde niemals riskieren, Darwins Jähzorn zu wecken.«
»Erzählen Sie mir von seinem Jähzorn.«
Sie senkte den Blick. »Ich habe Sie angerufen, weil ich gespürt habe, dass Sie ein außergewöhnlicher Mann sind, Frank. Aber das macht es trotzdem nicht leichter, darüber zu reden.«
»Mich kann nichts mehr schockieren«, versicherte ich.
Sie sah tief in meine Augen – tief in
mich
hinein. »Wieso das?«
»Ich habe Menschen von ihrer schrecklichsten Seite gesehen, während sie die
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