Infam
Zeug, besonders bei Kindern. Nach einer Überdosis kann es noch Tage später zu einer tödlichen Herzrhythmusstörung kommen. Tess’ QRS-Dauer war 0,14 Sekunden, was zu lang ist, wie du ja weißt. Die Reizleitung durch ihr Herz ist noch immer träge. Das bedeutet, sie ist weiterhin gefährdet. Wir haben getan, was wir konnten – eine gründliche Magenspülung, dann Aktivkohle, um auch noch die letzten Tablettenkrümel oder Medikamentenreste in ihrem Bauch zu eliminieren. Ich glaube nicht, dass die auf der Insel wirklich rigoros genug waren.«
»Es ist nur ein kleines Krankenhaus«, sagte ich.
»Nun ja, was geschehen ist, ist geschehen.« Er zwinkerte mir zu. »Das Einzige, was mir sonst noch Sorgen macht, ist, ob da noch ein anderes Gift in ihrem Körper ist, das die Blut- und Urinuntersuchungen nicht nachweisen.«
Viele Stoffe tauchen bei einer toxikologischen Untersuchung nicht auf, wenn man nicht mit maßgeschneiderten chemischen Tests speziell nach ihnen sucht. »Deuten ihre Symptome auf ein anderes Gift hin?«, fragte ich.
»Nein, aber ich will nicht plötzlich eine böse Überraschung erleben.« Er blickte zu Tess’ Zimmer hinüber. »Wir haben sie an den Überwachungsmonitor angeschlossen, geben ihr alle nötigen Infusionen, und am Bettende steht ein einsatzbereiter Defibrillator.« Er sah mich mit jener arroganten Zuversicht an, die man sich bei einem Arzt nur wünschen kann. »Ich werde dieses Kind verflucht noch mal nicht sterben lassen, Frank. Basta.«
Ärzte halten gewöhnlich nicht viel von gegenseitigem Schulterklopfen, doch Karlsteins Entschlossenheit rührte mich. »Sie könnte in keinen besseren Händen sein«, sagte ich. »Nicht für alles Geld der Welt.«
Karlstein war kein großer Freund von Komplimenten. »Sie ist hier, weil der Hubschrauber sie hier abgeliefert hat.« Er wurde wieder ernst. »Hör zu, ich will hier keinen Interessenkonflikt heraufbeschwören. Ich weiß, dass du an den Ermittlungen beteiligt bist, aber vielleicht könntest du einen kurzen Blick auf die Mutter werfen. Sie kommt nicht besonders gut mit der Situation zurecht.«
»Erklär mir bitte genauer, was du meinst.«
»Ich habe einfach nur ein mulmiges Gefühl, was sie angeht. Sie hat keine zwei Worte gesprochen, seit sie hier ist, was verständlich ist – Schock oder was auch immer –, aber sie klammert sich in einer Weise an das Kind, die mir nicht gefällt. Sie ist nicht aus dem Zimmer zu kriegen. Hat nichts gegessen. Keine Anrufe. Keine einzige Frage bezüglich der Behandlung ihrer Tochter.« Er hielt einen Moment inne. »Ich schätze, all das ist ziemlich vage, aber auf mich wirkt sie wie jemand, der kurz vor einem Zusammenbruch steht.«
»Ich bin hergekommen, um mit ihr zu sprechen«, erklärte ich. »Aber ich kann es nicht als offizielle Konsultation für das Krankenhaus tun – zumindest nicht, solange ich an den Ermittlungen beteiligt bin.«
»Schon verstanden«, sagte er. »Wir holen uns jemand anderen aus der Psychiatrie, wenn sie durchdreht.«
Ich nickte zustimmend, ehe ich mich auf den Weg zu Tess’ Zimmer machte. Julia saß mit dem Rücken zur Glaswand und starrte auf das Baby hinunter, sodass sie mich zuerst nicht bemerkte. Das gab mir Gelegenheit, mich erst einmal an den Anblick von Tess’ fünf Monate altem Körper zu gewöhnen – die EKG-Kabel auf ihrer Brust, die beiden Infusionsschläuche, die in ihre zarten Ärmchen führten, und die nasogastrale Sonde, die aus ihrer Nase ragte. Ihre Arme wurden von Pflasterstreifen in Schienen gehalten, die verhindern sollten, dass sie ihre Arme bewegte und dadurch die Infusionskanülen herausriss. Sie atmete, schlief jedoch dankbarerweise tief und fest.
Ich hatte in meinem Leben viele schreckliche Dinge gesehen, doch Tess’ Mitleid erregender Zustand stellte sie alle in den Schatten. Ich suchte noch nach Worten, die ich zu Julia sagen konnte, als sie sich umdrehte und mich in der Tür stehen sah. Sie wirkte hilflos und unbeteiligt, ergeben in ihr Schicksal, wie ein Schatten ihrer selbst. Doch welches emotionale Vakuum sie auch immer ihrer Gemütsregungen beraubt hatte, hatte ihre Schönheit unberührt gelassen. Sie mutete fast überirdisch an – ihr langes schwarzes Haar war ungekämmt noch atemberaubender, und ihre grünen Augen funkelten im Schein der Neonröhren. Vielleicht war es die sterile Kulisse, die sie so unglaublich strahlend wirken ließ, vielleicht aber auch die schlichte Tatsache, dass ich mich in sie verliebt hatte. Ich betrat das
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