Infam
Der Mord an einem Baby und der versuchte Mord an einem weiteren Säugling würden auf einen Eintrag in etwas so Unverfänglichem wie dem
TV Guide
reduziert.
Ich fand schließlich einen Platz auf der Drei-Uhr-Fähre, so- dass ich um 16 Uhr 40 in Hyannis ankam. Während ich die Route 3 entlangfuhr, erwischte ich im Radio die Fünf-Uhr-Nachrichten auf WRKO. Die Bishops waren der Aufmacher. In knapp fünfzehn Sekunden wurden die Fakten des Falls abgehandelt, ehe während der nächsten Minute Darwin Bishops milliardenschwerer Lebensstil im Mittelpunkt stand. Geld verkauft sich einfach besser als Mord und beinahe so gut wie Sex. Hätte die Presse auch noch gewusst, dass Bishop mit Claire Buckley schlief, hätten wir wahrscheinlich die nächsten Tage keine anderen Nachrichten mehr gehört.
Am Ende des Berichts wurde North Anderson interviewt, der erklärte, die Ermittlungen würden »noch laufen«, obwohl sie bereits einen Hauptverdächtigen hätten. Da es sich jedoch um einen Minderjährigen handelte, dürfe der Name der betreffenden Person nicht bekannt gegeben werden.
Um 17 Uhr 50 kam ich am Mass General an und hastete auf direktem Weg zur pädiatrischen Intensivstation.
Es gibt nur wenige Orte, die einen noch nachdenklicher machen. Die Station mutet wie die Höllenversion eines Miniatur-Einkaufszentrums an, mit winzigen Schaufenstern entlang allen vier Wänden. Jedes Zimmer beherbergt ein Kind in Todesgefahr oder in Erwartung eines sicheren Todes. Das Schwesternzimmer bildet den Mittelpunkt, ein Kiosk des Mitleids, in dem Überwachungsmonitore piepsend die schwachen Rhythmen von Herzen anzeigen, die eigentlich für die nächsten siebzig oder achtzig Jahre kräftig schlagen sollten. Unter den Monitoren steht eine Reihe von Heftern, auf deren Rücken die Vornamen der Patienten auf weißen Klebestreifen verzeichnet sind – eine Sammlung von Kurzgeschichten über die Grenzen von Gottes Allmacht.
Ich fand Tess’ Namen und Zimmernummer und entdeckte die entsprechende Nummer auf dem Schild des hintersten Zimmers zu meiner Rechten. In diesem Augenblick sah ich John Karlstein, den Chefarzt der pädiatrischen Intensivstation, aus einem der anderen Zimmer auf das Schwesternzimmer zugehen. Er bemerkte mich ebenfalls und kam auf mich zu.
Karlstein war ein Hüne von über einem Meter neunzig und Cowboystiefeln aus schwarzem Alligatorleder, die so etwas wie sein Markenzeichen sind. Er war eingestellt worden, als der vorige Leiter der Intensivstation sich geweigert hatte, nach der Pfeife der Krankenversicherungen zu tanzen, und auf einen Vollzeit-Lehrposten abgeschoben worden war. Seit dieser Zeit war die pädiatrische Intensivstation eine Gans, die goldene Eier legte. »Wie geht’s, Frank?«, begrüßte er mich mit seinem Bass. »Ist schon eine ganze Weile her, dass ich dich gesehen habe.«
»Gut. Und dir?«
»Kann mich nicht beschweren«, sagte er. »Wir sind voll belegt. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass die Aufenthaltsdauer unserer Patienten immer kürzer wird.«
Ich nickte. »Ich vermute, das hängt von der Sichtweise ab – von unserer Warte aus oder der der Patienten.«
Er schmunzelte, offenkundig nicht im Geringsten beleidigt. »Am Ende jedes Monats sehe ich mir die Zahlen an, um sicherzugehen, dass wir unsere Vorgaben erfüllen. Wir werden selbst künstlich am Leben erhalten.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Hat jemand einen psychiatrischen Gutachter angefordert?«
»Diesmal nicht. Ich arbeite an dem Bishop-Fall – als Forensiker«, sagte ich.
»Ich wusste gar nicht, dass du wieder im Geschäft bist.«
»Bin ich auch nicht. Ich habe einen Freund bei der Nantucket Police, der mich dazugeholt hat. Dieser Fall ist eine Ausnahme.«
»Ich kann verstehen, warum«, bemerkte Karlstein. »Ziemlich üble Geschichte, was? Erst der eine Zwilling, jetzt der andere. Und dieser Bishop ist Milliardär. Brillanter Kopf, wie ich höre. Ein Finanzgenie.«
»Scheint so«, sagte ich und deutete mit einem Nicken zu Tess’ Zimmer. »Wie geht es ihr?«
»Dem Baby?«
»Ja.«
Karlsteins Miene wurde ernst. Sein linkes Auge schloss sich halb, ein Reflex, der immer dann aufzutauchen schien, wenn sein Verstand auf Hochtouren arbeitete. So sehr John Karlstein auch auf die Profitspanne schielte und ich mich manchmal über ihn ärgerte, war er noch immer einer der besten pädiatrischen Intensivärzte der Welt. Vielleicht sogar
der
beste. »Die Sache sieht so aus«, sagte er. »Nortriptylin ist ein heimtückisches
Weitere Kostenlose Bücher