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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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würde«,
sagte die Stimme in meinem Hinterkopf.
    Dieser Vorschlag schien der richtige Weg zur Wahrheit zu sein. »Wie hätte Ihr Großvater reagiert, wenn Sie den ersten Schritt gemacht hätten?«, fragte ich sie.
    »Den ersten Schritt?«, wiederholte sie.
    »Wenn Sie ihm Sex angeboten hätten.«
    Die Andeutung eines Lächelns spielte um ihre Mundwinkel. »Darüber möchte ich nicht nachdenken«, sagte sie.
    »Das liegt ganz bei Ihnen«, erwiderte ich. »Aber wenn Sie sich diesen Gedanken stellen, dann können sie Sie vielleicht nicht mehr überfallen. Möglicherweise stellen Sie fest, dass Sie sie an- und abschalten können, ohne eine Spritze zu benutzen.«
    Sie sah aus, als sei ihre Entschlossenheit ins Wanken geraten.
    »Versuchen Sie es nur zehn Sekunden lang. Nicht länger«, sagte ich.
    Sie sah mich prüfend an, ob ich es ernst meinte, dann verdrehte sie die Augen und schüttelte den Kopf.
    »Wäre er böse mit Ihnen gewesen?«, fragte ich.
    »Nein«, sagte sie. »Er war ein verständnisvoller Mann.«
    »Wäre es ihm peinlich gewesen?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Wäre er schockiert gewesen?«
    Sie wurde rot und kicherte. »Meine Güte, ich habe keine Ahnung, was er gesagt hätte.«
    Diese Worte schienen dem Kern des Problems ausgesprochen nahe zu kommen. Lilly konnte nicht sagen, ob ihr Großvater sie als Geliebte akzeptiert hätte, wenn sie sich ihm angeboten hätte.
    Eine gesunde psychosexuelle Entwicklung findet in einer Atmosphäre statt, in der Kinder wissen, dass die Erwachsenen um sie herum ihre sexuellen Gefühle nicht ausnutzen würden. Wenn ein kleines Mädchen ihren Vater fragt, ob er sie heiraten würde, ist eine gute Antwort: »Ich bin mit deiner Mutter verheiratet. Ich liebe sie. Eines Tages wirst du auch jemanden kennen lernen, der dich auf dieselbe Weise liebt.« Der Vater (oder Großvater) sollte nie mit einem anzüglichen Augenzwinkern oder einem spielerischen Klaps auf den Po antworten – oder mit Schweigen.
    Lilly hatte unbewusst gefürchtet, ihr Großvater würde ein Angebot auf eine Liebesbeziehung annehmen, und daraufhin ihre Sexualität unterdrückt. Als jene Sexualität während der Flitterwochen zutage getreten war, waren damit all die Schuldgefühle und die Furcht eines kleinen Mädchens einhergegangen, das versucht, sich den Mann des Hauses zu angeln. Ihre sexuellen Triebe waren tabu. Schmutzig. Mussten bestraft werden.
    »Hatte er Affären mit anderen Frauen?«, fragte ich.
    »Oh, ich denke schon«, antwortete sie. »Mit ziemlicher Sicherheit sogar.«
    »Wieso sagen Sie das?«
    »Sie haben sich deswegen gestritten – er und Großmutter. Er hat oft Überstunden gemacht. Manchmal ist er nachts überhaupt nicht nach Hause gekommen. Es gab eine wütende Szene wegen einer Frau, die er als Sekretärin eingestellt hatte.«
    »Hat er je mit Ihnen über diese Frauen gesprochen?«, fragte ich.
    »Ich glaube nicht«, sagte sie. »Zumindest nicht direkt. Aber ich wusste, dass er mit Großmutter nicht glücklich war.«
    »Woher wussten Sie das?«
    »Er hat immer über ehemalige Freundinnen gesprochen, mit denen er vor seiner Heirat ausgegangen war. Besonders über eine. Eine Frau namens Hazel. Sie war Jüdin, und mein Großvater war irisch-katholisch, was der Sache ein Ende setzte. Es war damals eine andere Zeit. Aber er hat mir erzählt, dass sie diejenige war, für die er bestimmt war.«
    »Wie alt waren Sie, als er Ihnen das erzählt hat?«, fragte ich.
    »Acht, vielleicht auch neun.« Sie überlegte kurz. »Seltsam, dass ich mich daran noch erinnere.«
    Leute klammern sich oft an einzelne, lebhafte Kindheitserinnerungen als ein Symbol für größere psychologische Zusammenhänge. Im Alter von neun wusste Lilly schließlich schon eine Menge über ihren Großvater. Er liebte seine Frau nicht. Er war offen für andere Frauen. Und, vor allem anderen, er war bereit, ihr sehr persönliche und erwachsene Informationen über sich zu offenbaren. Vielleicht könnte sie eines Tages den Platz ihrer Großmutter einnehmen und ihrem Großvater Erfüllung schenken, hatte sich die neunjährige Lilly möglicherweise überlegt. Es war außerordentlich wichtig, dass sie ihn glücklich machte, da sie schließlich bereits ihren Vater verloren hatte.
    »Es klingt so, als wüssten Sie nicht, wie Ihr Großvater reagiert hätte, wenn Sie sich ihm angeboten hätten«, erklärte ich Lilly. »Das bedeutet, dass er Sie verführt hat, ohne Sie jemals anzufassen.«
    »Genau das ist so schwer für mich zu glauben«,

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