Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Infanta (German Edition)

Infanta (German Edition)

Titel: Infanta (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bodo Kirchhoff
Vom Netzwerk:
wisse, was der Kern des Ganzen sei. Er schob eine Zigarette in sein Mundstück, steckte sie an und flüsterte plötzlich. »Stell dir vor, es würde eine Art Roman aus unserer Arbeit, man weiß das ja nie, und wir wären gezwungen, für die Reklame eine Kurzfassung zu schreiben, nicht mehr als dreihundert Worte, und die so vielversprechend wie möglich, ohne der Wahrheit zu schaden, und das bis morgen früh, da die wichtigen Dinge ja immer am schnellsten gehen müssen. Vergiß also das Schlafen. Laß uns beginnen.«
    »Was ist mit deiner Totenwache?«
    »Ich habe für Vertretung gesorgt.«
    McEllis dachte einen Augenblick nach.
    »Wäre so eine Zusammenfassung nicht der letzte Schritt vor dem ersten?«
    »Durchaus, durchaus«, sagte Butterworth, lebhafter werdend. »Aber damit auch wieder Schritt eins.«
    »Und nimmt sie nicht das Beste vorweg?«
    »Ein gewisser Anreiz scheint mir sinnvoll. Oder wir beschränken uns auf die Ausgangslage und erzählen, wie der Motor der Handlung anspringt.«
    »Du meinst den Weg bis zum Zündfunken der Geschichte«, sagte McEllis, »und nicht mehr?«
    »Kein Wort mehr.«
    »Na gut. Obwohl ich es für gewagt halte.«
    Und die beiden tauschten ihre Gedanken aus. – Da hatte man also einen Gast aufgenommen, einen Deutschen aus Rom, gutaussehend, müßig, mit unklarer beruflicher Tätigkeit, einen Kerl, von dem nur feststand, daß er um die Vierzig war und noch immer nicht erwachsen. Aber müßte man nicht weiter ausholen, auch Umstände, Hintergründe nennen? Das hieße: eine große Insel, Äquatornähe, Kriegsgebiet, Gegenwart. Im Herzen der Insel ein Flecken – Strohhütten, Blechbuden, Schönheitssalons, eine Kirche, ein Nachtclub – und am Ortsrand, abgeschieden, die Station, Heimat langgedienter Missionare, der Alten.
    »Sollten wir uns wirklich so nennen?« warf McEllis ein.
    »Es entspricht der Wahrheit.«
    »Na gut. Fahren wir fort –«
    Sie, die Alten, sozusagen der Chor – drei Amerikaner, ein gebürtiger Deutscher, ein Italiener und ein Einheimischer –, kamen vor Jahren zu einer Haushilfe, einem Mädchen, das sich machte. Sie wurde erstens schön und schöner und zweitens, durch den Umgang mit den weltgewandten Pensionären, klug und klüger. Für die Burschen im Ort eine vernichtende Kombination, für die Missionare eine letzte Prüfung – jeder verliebte sich, jeder schwieg, jeder bangte; einer brach gar mit der Kirche. Ihr Leben geriet aus dem Lot, ihr Frieden stand auf dem Spiel – bis ein offener Verstoß alle verdeckten vom Tisch fegt. Der Deutsche aus der Ewigen Stadt, aufgegabelt an der Küste, fast eine Straßenbekanntschaft und mehr entführt als eingeladen, macht das Mädchen zur Frau, und die Alten werden über Nacht zu Komplizen. Auf einmal sind sie Anstifter, Mitwisser, Kuppler, diskrete Spione und kleine Schmarotzer, unermüdliche Bewacher des Liebeslebens unter ihrem Dach; von Lebensabend keine Spur mehr –
    »Und damit beginnt die Geschichte«, riefen beide aus einem Mund, »und nimmt hoffentlich ein gutes Ende!«

D ieses Ende begann wie ein Fest. Die Journalisteninvasion, die Narciso vorausgesehen hatte, kam in Gang. Der Vortrupp aus Quartiermachern, Bestechern, Anwerbern und Abwerbern, Technikern, Inspizienten, Dramaturgen und Aufnahmeleitern hatte vierundzwanzig Hütten, zwei Eßbuden und mehrere Garküchen gemietet, neue Speisepläne aufgestellt und die Hygiene verbessert, freie Mitarbeiter rekrutiert und Phantasietitel vergeben, Leibchen mit den Emblemen der großen Fernsehgesellschaften verteilt, Einfluß auf das Straßenbild genommen und die sonntäglichen Hahnenkämpfe auf einen günstigeren Termin vorverlegt, in der Schule Volkslieder üben lassen, ein Informantennetz geschaffen und die Poststelle zu einem Nachrichtenzentrum erweitert.
    Infanta änderte sein Gesicht. Der Ort wurde typisch. Wo sonst manchmal ein Bettler saß, saß nun immer ein Bettler. Die Trägheit der Billardspieler erschien als Melancholie. In den winzigen Läden mit dem Dutzend an Fäden geknüpften Bananen hingen jetzt nur noch drei oder vier, trauriger, verlorener, sinnloser denn je. Der stille Tagesmarkt wandelte sich zu einem tristen mit einzelnen Fischen, summenden Fliegen und schleichenden Hunden in Hauptrollen. Wo verblaßte Wahlplakate hingehörten, klebten wieder welche. Zeit und Fortschritt waren zurückgedreht. Keine Frau, die ohne kaputten Sonnenschirm einkaufen ging. Kein Kind, das nicht nackt mit Abfall gespielt hätte. Kein Telefonat mit der Außenwelt

Weitere Kostenlose Bücher