Infektiöse Visionen (German Edition)
eingedrungen. Vom linken unteren Eck aufsteigend war ein Drittel des Glases von innen her beschlagen. Auch das Papier war gewellt, die Tinte oder Druckerschwärze stellenweise verlaufen, aber ich sah noch genug von dem Stich, um zu stutzen: Das Schloss stand nicht auf einem Berg, nicht mal auf einem Hügel. Das Areal war weitläufig waldfrei. Ein Park mit Blumenbeeten und niedrigen Büschen erstreckte sich vor dem Schlossportal und endete an einem Kies-Rondell vor der Freitreppe.
Vielleicht ein falsches Bild. Ganz sicher sogar, denn auch dieses Schloss schien überhaupt nicht mit den Gegebenheiten hier überein zu stimmen. Mindestens drei Stockwerke hoch, erstreckte sich eine endlose Fensterfront zwischen zwei wuchtigen Außentürmen. Dass einem das Anwesen auf den ersten Blick eher bescheiden vorkam, lag am falschen Größenverhältnis der Personen zum Gebäude – deren Köpfe ragten fast bis zum Dach, obwohl sie direkt davor zu stehen schienen. Aber da waren auch kleine Männchen um die Kutsche herum, Dienerschaft offenbar, und deren Körpergröße im Verhältnis gesetzt, machte aus dem Schloss ein Bauwerk so monströs wie ein Berg.
Aber spielte das alles überhaupt eine Rolle? Warum war ich hier?
Meine Abi-Prüfung fiel mir wieder ein. Mathe, es grauste mich, als ich daran dachte. Ich musste was tun, ich musste zurück!
Das Fahrrad stand neben dem Gästebuch-Holzkasten aufgebockt. Ich wäre aufgestiegen und davon gefahren, so sehr hatte mich die Prüfungsangst mit einem mal in ihren Krallen, wäre nicht das Türchen des Kastens angelehnt gewesen. Ich war mir ziemlich sicher, den gebogenen Nagel heruntergedreht und die Tür damit fixiert zu haben. Denn ich hatte eine seltsame Ehrfurcht vor diesem einsamen Buch im Wald und fühlte mich verpflichtet, es zu schützen.
Ich machte den Schritt vom Fahrrad zum Kasten, um das Türchen zu schließen und mit dem Nagel zu verriegeln. Aber als ich es in der Hand hatte, zog ich es auch auf und sah das Gästebuch liegen, wo ich es doch immer hochkant gegen die Rückwand gelehnt stellte. Kein Zweifel, es war jemand hier gewesen.
Ich nahm das Buch heraus und schlug die letzte beschriebene Seite auf.
„ Zwei Rätsel, die auf eines hinauslaufen. Der Knackpunkt heißt Berg.“
Der Eintrag war neu. Es war die blassblaue, leicht verschwommene Schrift, die so sehr von allen anderen Einträgen abwich. Und erstmals richtete diese Schrift einen direkten Befehl an mich:
„ Scheiß auf Mathe, SeFo! Was Du brauchst, ist eine Taschenlampe!“
Kapitel 5: Die blaue Leiche
In dieser Nacht hatte ich erstmals einen Traum, der mich von da an verfolgen sollte.
Jemand berührte meine Leiche.
Ich hockte in Mathe, der vorletzten offiziellen Stunde vor der Prüfung, und zwang meine ständig abschweifenden Gedanken zurück zum Stoff.
Beim Blick auf den faltigen Hinterkopf des Mathelehrers und seine herabhängenden Ohren erinnerte ich mich an dieses Bild und wusste zugleich, das hatte ich in der Nacht davor geträumt.
Anders aber als sonst bei Traumfragmenten wurde die Erinnerung detaillierter, statt zu verblassen. Und Gefühle stiegen dazu auf. Es tat mir so leid um die arme blau verfärbte Leiche. Das Häuflein, das da lag, hatte zu Lebzeiten unnötig gelitten, und das hatte auch seinen Grund. Einen guten Grund, an den ich mich noch nicht erinnerte, der mir noch nicht eingegeben war, aber ich würde noch drauf kommen.
Jedenfalls lag sie da, ganz unwürdig, die Leiche dieses armen Mannes, statt ehrenvoll aufgebahrt zu sein, kauerte verknautscht auf der Seite, in Embryohaltung erstarrt, die Augen halb offen ins Leere glotzend. Und der letzte Getreue trauerte um seinen Herrn und legte ihm die Hand auf die Stirn, eine scheinbar rührende Geste, aber irgendwas stimmte da nicht, irgend...
„ Was?“
„ Ob Sie Ihre Aufzeichnungen haben, Sebastian?“
„ Ja, klar.“
Die Aufzeichnungen. Von? Ich wühlte in meiner Mappe.
„ Schon gut.“
Er hatte sich schon wieder umgedreht und der Tafel zugewandt. Seine Ohren wippten dabei.
Kapitel 6: Das Ultimatum
Moment mal. Wie kann ich eine Leiche sein und trotzdem sehen, wie jemand diese Leiche berührt?
Erst nach der Mathe-Stunde fiel mir dieser Widerspruch auf.
Ein Traum eben, nicht weiter des Nachdenkens wert.
Aber so leicht wurde ich damit nicht fertig. Das Bild, mit Nachdruck verscheucht, kam später zurück. Und blieb. Legte sich über Algorithmen und komplexe Zahlen. Ließ mich nicht los.
Vielleicht wollte ich es nicht
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