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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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nur noch Wasser trank.
    An Dialoge kann ich mich besser erinnern. In besonderen Fällen merke ich sie mir wörtlich.
    „ Was ist?“, fragte sie. Ich musste wohl komisch geguckt haben.
    „ Nichts. Nur... - ich hätte nicht gedacht, dass ich mal in deinem Zimmer sitzen würde.“
    Sie lächelte und schenkte ein.
    „ Tja.“
    „ Wie war’s denn bei deiner Tante?“
    „ Schön.“
    Sie gab mir mein Glas und setzte sich mit ihrem neben mich. Das Bett bog sich durch, und obwohl sie etwas Abstand gehalten hatte, berührten wir uns dadurch, dass wir in Richtung der Kuhle gezogen wurden. Sie nahm einen Schluck, stand kurz auf, stellte das Glas auf dem Nachtschränkchen ab und setzte sich wieder so nah, dass wir uns berührten. Sie schaute mit leicht geneigtem Kopf zu mir herüber. Der Blick kam mir keck vor, aber was sie sagte, war sachlich.
    „ Eigentlich war ich dort, um mir die Münchner Uni anzuschauen und schon mal nach einer Wohnung zu suchen. Aber wenn ich nichts finde, kann ich einstweilen bei meiner Tante wohnen. Sind nur 20 Kilometer von ihr zum Campus.“
    „ Du willst in München studieren? Was denn?“
    „ Medizin. Den Platz hab ich schon.“
    „ Medizin wollte ich auch mal studieren.“
    „ Und jetzt?“
    „ Bin ich durchgefallen.“
    Ich versuchte ein schiefes Grinsen, und es ging schief.
    „ Du machst doch die Nachprüfung.“
    „ Ja. Aber selbst wenn ich bestehe, wer weiß, ob dann der Notendurchschnitt reicht. Außerdem muss ich erst mal zum Bund.“
    „ Aber danach könntest du doch nach München kommen.“
    „ Ja? Das wäre... schon was.“
    Unvermittelt musste sie husten. Erst klang es nur so, als habe sie sich verschluckt, aber dann wurde ein Anfall daraus, der sie völlig verkrampfte und ihr sichtlich weh tat.
    „ Ich hab mich da unten erkältet“, krächzte sie, als sie wieder Luft bekam. „Ist aber fast vorbei.“
    „ Na, ich weiß nicht.“
    Ich hatte in einer fürsorglich gemeinten Geste den Arm um ihren Rücken gelegt und ließ ihn da liegen, als sie sich wieder aufrichtete. Sie schaute mich an, und ich sah eine Träne der Anstrengung in ihrem linken Auge sich zum Tropfen formen und die Wange herunterlaufen. Mit dem Daumen der rechten Hand wischte ich sie weg, während ich den linken Arm noch um sie gelegt hatte.
    Und so passierte es halt, dass wir uns küssten und so weiter. Der Hustenanfall war gekommen wie bestellt. Natürlich nahmen wir beide ihn leicht zu diesem Zeitpunkt. Er würde sich als der Beginn unserer Beziehung verewigen, meinten wir.
     

    Nun, da Myriam sich als meine neue Freundin für mich verantwortlich fühlte, machte sie sich sogleich zu meinem Mathe-Coach. Ich fand das süß und fügte mich in ihr Lernpensum, obwohl ich lieber was anderes mit ihr gemacht hätte. Sie hatte unsere Zukunft fest vor Augen: Ich würde die Nachprüfung bestehen, zum Bund gehen, und in einem Jahr würde ich ihr nach München folgen, mit ihr zusammen wohnen und studieren. Ich hatte ihr noch nicht von den Plänen meiner Eltern erzählt, und daher konnte sie nicht einschätzen, was diese Vision für mich bedeutete: Das Versprechen einer neuen Heimat für einen potenziell Heimatlosen.
    Ich war einfach glücklich.
    Und spürte deutlich, dass etwas in mir und um mich herum sehr viel gegen dieses Glück einzuwenden hatte, sich dagegen sträubte – und Gegenmaßnahmen zu treffen begann. Das denke ich aus heutiger Sicht, aber es gab auch damals Hinweise, die mich schaudern machten, auch wenn ich sie nicht sehen wollte und ausblendete.

Kapitel 12: Zusammenbruch
     

    Zwei Tage vor meinem Nachprüfungstermin, den ich übrigens bei zweiter Nachfrage anstandslos bekommen hatte, fuhren wir mit dem Bus zum Rosensaal, einem etwas heruntergekommenen Tanzlokal im Industrieviertel unserer Stadt. Hier sollte am darauffolgenden Wochenende der Abiturball mit Zeugnis-Überreichung stattfinden. Normalerweise wurde dafür immer die Stadthalle gebucht, aber die wurde in diesem Frühjahr generalsaniert, und so hatte die Schule hierher ausweichen müssen.
    Myriam war Mitglied im „Vorbereitungskomitee Abiball und Abizeitung“, das nannte sich tatsächlich so. Überwiegend waren da genau wieder die Schülerinnen und Schüler dabei, die sich auch in anderer Hinsicht engagierten, für was auch immer: Bund Naturschutz, Jungsozialisten, Schülerzeitung, irgendwelche Abiturienten-Mitverwaltungsforen... – mir wäre jedenfalls nie in den Sinn gekommen, da mitzumachen, Girlanden und allerlei Firlefanz
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