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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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wenn mich jemand derart intensiv ansah, selbst wenn es wohlwollend gemeint war, senkte ich den Blick und nickte nur.
    Neu war, dass ich dabei den kleinen Knochen drückte, an dem ich mich seit Tagen schon festklammerte, ohne es so recht zu merken. Ich trug ihn meist in der rechten Jeanstasche, spielte dort drin versteckt mit ihm herum oder holte ihn auch hervor und hielt ihn in der Hand, immer in der rechten, denn dort gehört er hin. Er fühlte sich porös an, leicht und zerbrechlich, warm und weich.
    „ Ich gehe ein paar Sachen für sie holen. Willst du mitkommen?“
    Ich nickte und stand auf.
    „ Wie geht es ihr denn?“
    „ Nicht so gut.“
    „ Und was hat sie überhaupt?“
    Sie zuckte mit den Schultern.
    „ Lungenentzündung. Verschleppte Erkältung. Besonders überzeugend kommt mir die Diagnose der Ärzte nicht vor. Sie machen weitere Tests.“
    „ Könnte es nicht was ganz Neues, Unbekanntes sein?“
    „ Sie war aber nicht im Ausland. Und hatte keinen Kontakt mit jemandem, der sie angesteckt haben könnte. Zumindest erinnert sie sich nicht.“
    „ Und ihre Tante?“
    „ Meine Schwester ist das. Sie hat ihr Blut untersuchen lassen, vorsichtshalber. Aber sie war die ganze Zeit gesund. Vielleicht ist es wirklich nur eine Lungenentzündung. Ich denke, durch den Abiturstress bedingt. Myriam hat sich schon immer alles sehr zu Herzen genommen.“
    Ich nickte und fühlte mich scheußlich.
    Meine Unruhe wuchs während der Fahrt. Ich bekam schweißnasse Hände, fühlte mich schuldig. War kurz davor, etwas zu sagen, als wir ausstiegen, durch den Garten zur Haustür gingen, durch den Flur zur Treppe, die Treppe hoch.
    Zum zweiten Mal betrat ich Myriams Zimmer, diesmal ohne sie. Wie sonderbar und traurig. Aber da war mehr. Da war das Gefühl einer latenten Bedrohung, eine Ahnung schicksalhafter, nicht änderbarer Abläufe. Ich stand verloren und nutzlos herum, während Frau Senter einige Sachen zusammensuchte: Myriams Walkman, ein paar Bücher, einen Stoffhasen mit riesigen Füßen...
    Überall war da etwas, jedem Gegenstand im Raum haftete etwas an. Eine Duftmarke war gesetzt worden.
    „ Wollen wir den Fernseher mitnehmen“, fragte ich.
    Sie schüttelte den Kopf und zog den Reißverschluss der Tasche zu.
    „ Nicht erlaubt auf der Intensivstation.“
    Ich nahm ihr die Tasche ab.
    Eine tödliche Duftmarke.
    Ich musste etwas sagen.
     

    Und ich war auch entschlossen dazu, als ich in Frau Senters Begleitung die Schleuse passierte, die blaue Schutzkleidung samt Mundmaske anlegte und in die Plastik-Überschuhe stieg. Dem erstbesten Arzt, der mir hier begegnete, würde ich alles erzählen. Sollten sie mich doch für verrückt halten.
    Wir hörten Myriam von weitem husten, als wir uns ihrem Bereich näherten. Einzelne Zimmer gab es hier nicht, nur lange Räume mit offenen Türen und Fenstern an den Innenwänden. Durch einen Korridor aus mannshoch gestapelten, laut summenden Apparaten näherten wir uns ihrem Bett, und als sich der Blick auf sie öffnete, hörte das Husten schlagartig auf.
    In diesem Moment wusste ich, dass ich keinem Arzt und überhaupt keinem Menschen erzählen würde, was mit Myriam los war.
    Sie lag auf dem Rücken, vom Husten noch ganz verkrampft und im Gesicht blau angelaufen. Eine Schwester mühte sich, ihr das Bettoberteil aufrecht zu stellen, um ihr das Luftholen zu erleichtern, aber man sah der jungen Frau die Vergeblichkeit ihrer Mühe an. Nur ich allein durchschaute den Grund dieser Vergeblichkeit: Auf Myriams Brust hockte ein fettes, blaues, qualliges Etwas, drückte ihr den Atem ab und das Leben aus dem Leib und verunmöglichte es der Schwester durch sein schieres Gewicht, ihren Körper aufrecht zu heben.
    Ich sah diesem Etwas seinen Pressdruck an, eine willkürlich einsetzbare Tonnenlast, obwohl das Ding an sich leicht und flüchtig war, eigentlich nicht vorhanden und doch alles bestimmend und beeinflussend. Die Umrisse markierten ein Körpervolumen wie das eines Menschen, doch die scheußliche Glibbermasse hockte zusammengekauert wie ein Frosch auf Myriams Brust, ihre flache, breite Fratze hatte einen grinsenden Ausdruck, der aber täuschte – ihr Charakter war ernst und böse und nie zu Späßen aufgelegt.
    Das Ding sah mich, erkannte mich, setzte zu einem Riesensprung an, löste sich von Myriams Brust und flog mir entgegen. Es war der Moment, in dem ihr Husten schlagartig aufhörte und die Schwester mit Leichtigkeit ihr Bettoberteil aufrichten konnte.
    Auf halbem Weg löste sich das
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