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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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befassen.
    Über gar nichts wollte ich nachdenken. Auch nicht über die Schlossruine und was ich in einer Art geistiger Umnachtung darin getrieben hatte. Nicht über den immer stärker werdenden Drang, ins Nirgendwo davonzufahren. Und nicht über die Hürde der Nachprüfung, die mir noch bevorstand. Wir würden gemeinsam zum Abi-Ball gehen, nur das zählte.
     

    Als es eine Stunde später an meiner Zimmertür klopfte, war ich derart in eine der Mathe-Abiturprüfungsaufgaben vertieft, dass ich wie aus einem Alptraum aufschreckte. Hastig ließ ich Bücher und Hefte verschwinden.
    „ Ja?“
    Die Tür ging auf, meine Mutter steckte den Kopf herein und schaute mich an, ohne den Mund aufzumachen. Sofort ging mir der Hut hoch. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn sie so geheimnisvoll tat.
    „ Was ist denn schon wieder?“
    „ Hast du mir nichts zu sagen?“
    Ich starrte sie an. Der Blick verhieß nichts Gutes. Genauso würde sie mich anschauen, wenn ihr mein Prüfungsergebnis zu Ohren gekommen wäre. Dieses sorgenvoll-mütterlich-strafende Gesicht, dieses ganze Getue ärgerte mich mehr als dass es mich, wie beabsichtigt, schuldbewusst machte. Trotzig erwiderte ich den Blick.
    „ Sebastian?“
    Sie drehte die Augen heraus.
    „ Wenn du’s nun schon weißt, dann brauch ich ja wohl keine Erklärungen abzugeben.“
    „ Wie bitte?“
    Entrüstet stieß sie die Tür auf und kam herein. In der rechten Hand hielt sie eine meiner Jeans und ein T-Shirt von mir, in der anderen mit spitzen Fingern etwas Kleines, Braunes, Längliches. Ich erschrak bis ins Tiefste meiner Seele. Eine Erinnerung wollte zu mir durchdringen, und ich merkte, dass ich selbst es war, der sie nicht zuließ. Es war Teil des Plans, dass ich sie mir diese Sachen bringen ließ.
    „ Kannst du mir das vielleicht mal erklären?“
    Sie hielt mir das Zeug direkt unter die Nase. Ich sah, dass die Jeans und das T-Shirt aufgerissen und dreckverschmiert waren. Feiner, staubiger Schmutz rieselte aus der Jeanstasche auf den Fußboden, und es hing etwas daraus hervor, das aussah wie alte Lumpen und zerschlissene Stofffetzen. Der kleine Gegenstand war ein Knochen. Zweifellos ein Menschenknochen. Die nicht zugelassene Erinnerung drohte zu explodieren und mich zu zerreißen.
    „ Sebastian!“ Auf einmal klang sie besorgt. „Du zitterst ja! Was ist denn los?“
    Ich konnte nicht antworten. Ich war es nicht gewohnt, dass mich jemand am kleinen Finger festhielt.
    Da war sie wieder und lenkte mich ab, die Erinnerung an meine zerknautschte, einsame Leiche mit den dunkelblauen Schatten unter den Augen. Ich fror und bebte vor Angst.
    Sie ließ meine Klamotten fallen, legte den Knochen auf meinen Schreibtisch und versuchte, mich in den Arm zu nehmen. Natürlich wehrte ich mich dagegen, obwohl ich genau wusste, wie sehr ich sie damit verletzte. Wie von einem Stromschlag getroffen, machte sie einen Schritt zurück.
    „ Ich kenn mich überhaupt nicht mehr aus“, jammerte sie. „Was ist denn bloß los?“
    In diesem Moment hätte ich ihr sogar ehrlich geantwortet, wenn ich es selbst gewusst hätte. Ohne Zweifel waren das die Sachen, die ich angehabt hatte, als ich den Hirsch rettete und danach in das Loch stieg. Was war da unten bloß passiert? Wie mechanisch drehte ich meine Unterarm-Unterseiten nach oben und entdeckte dicke rote Striemen und Kratzer, die sich zum Teil entzündet hatten. Meine Mutter folgte meinem Blick und hielt sich die Hand vor den Mund.
    Ich sah zu ihr hoch und fragte mit belegter Stimme:
    „ Wo hast du die Sachen gefunden?“
    „ Draußen in der Abfalltonne.“
    Ich verengte ungläubig die Augen, und sie bezog das sofort auf sich.
    „ Ich hab dir nicht hinterherspioniert. Eines der Hosenbeine hing über den Tonnenrand.“
    „ Und wo war der Knochen?“
    „ In einer der Hosentaschen. Mit jeweils einer Faust voll Dreck und alten vergammelten Stoffresten. Weißt du denn wirklich nicht, was passiert ist?“
    Ich schüttelte langsam den Kopf und starrte an ihr vorbei ins Leere. Konnte es sein, dass man den Verstand verlor und sich dabei völlig normal fühlte? Dass man die Verrücktheiten, die man beging, einfach ausblendete und sein Bewusstsein auf den Rest von Normalität beschränkte? Und was, wenn dieser Rest sich auch noch auflöste und einem zwischen den Fingern zerrann?
    Ich spürte, dass meine Mutter mich anstarrte und dabei zunehmend die Fassung verlor.
    „ Ich kann doch unmöglich...“, stammelte sie.
    „ Was?“, fragte ich und hob den
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