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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition)
Autoren: Manfred Köhler
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übernachten und am nächsten Tag weiter. Einfach irgendwohin. Komisch, dieses Bedürfnis hatte ich nie gehabt. Und jetzt war es so stark über mich gekommen, dass ich nicht mal den Regen und die Eiseskälte als Hindernis sah.
    „ Sebastian, kommst du mal!“
    Ich schreckte auf. Wenn sie so durchs ganze Haus brüllte, statt bei mir anzuklopfen, dann war irgend was. Vielleicht hatte sie den Brief bekommen. Aber das war unmöglich, ich hatte den Postboten abgefangen. Oder sie hatte wieder mal „zufällig“ den alten Arsch von Eselsohr getroffen. Und wusste nun Bescheid über meine Glanzleistung.
    „ Sebastiaaaaaan!“
    Na wenn schon, irgendwann musste ich da sowieso durch. Aber ich würde nicht zu Kreuze kriechen. Deshalb öffnete ich meine Zimmertür nur einen Spalt und brüllte zurück:
    „ Was ist denn?“
    „ Telefon.“
    Pff!
    „ Ja, schon gut.“
    Ich trampelte die Treppe hinunter und griff zum Hörer, den sie neben dem Apparat im Flur abgelegt hatte. Im selben Moment zog sie von innen die Küchentür zu, ohne sich gezeigt zu haben. Sie hielt sich ja für so diskret, wenn sie das machte. Statt dass sie mir endlich einen eigenen Anschluss nach oben hätten legen lassen.
    Aber na ja, inzwischen war mir klar, warum sie das hinausgezögert hatten. Ein bisschen schmerzte der Gedanke schon, dass ich nicht mehr allzu oft hier unten in der Diele vor dem Wandspiegel neben der Garderobe zum Hörer greifen würde.
    „ Ja hallo, hier spricht der Sebastian Forberig.“
    Ein leises Schnaufen am anderen Ende. Ich weiß nicht warum, aber ich musste an etwas Unheimliches denken, einen Anrufer aus dem Jenseits. Ich spürte, dass der Tod durch die Leitung atmete, und erschrak heftig.
    „ Wie geht’s dir denn?“
    „ Was?“
    „ Hallo? Sebastian?“
    Ich erkannte Myriams Stimme und entspannte mich.
    „ He, ich dachte, du kommst erst in zwei Tagen zurück.“
    Meine Stimme klang seltsam, und ich wusste, dass sie das merkte.
    „ Und ich dachte, du freust dich, wenn ich früher anrufe.“
    „ Tu ich auch. Wo bist du denn?“
    „ Bei meiner Tante.“
    „ Weit weg?“
    „ Ziemlich. Ich kann von hier die Alpen sehen.“
    „ Ich vermisse dich.“
    Ich fand es nicht unpassend, das zu sagen. Sie hatte meine Nummer zu ihrer Tante mitgenommen oder wusste sie auswendig!
    „ Ich dich auch. Komisch, oder?“
    „ Wieso?“
    „ Na, wir kennen uns doch eigentlich gar nicht.“
    „ Als ich dich da angerufen habe, du weißt schon, zum Joggen, ich meine... wenn dich jemand anders angerufen hätte, wärst du da auch gleich mit?“
    „ Nein.“
    „ Na siehst du.“
    „ Trotzdem. Immerhin ging’s ja danach nicht mehr weiter.“
    „ Ich weiß, das lag an mir, aber... das ist jetzt vorbei.“
    „ Was denn?“
    „ Hatte nichts mit dir zu tun. Ich erzähl’s dir demnächst mal.“
    „ Bist du deswegen auch durchgefallen?“
    „ Das weißt du?“
    „ Ja. Tut mir leid.“
    „ Das weiß noch nicht mal meine Mutter“, raunte ich.
    „ Die ganze Schule spricht über dein... etwas seltsames Verhalten beim Mathe-Abi.“
    „ Hab ich mir schon gedacht.“
    „ Was war denn los?“
    Die Frage störte mich, und ich fragte ziemlich ruppig zurück:
    „ Rufst du deswegen an? Um mich auszuquetschen?“
    „ Nein, natürlich nicht.“
    Es klang ehrlich.
    „ Entschuldige.“
    „ Schon gut. Machst du die Nachprüfung?“
    „ Ich denke schon.“
    „ Wenn du willst, helfe ich dir. Ich hatte zwar nur Mathe Grundkurs...“
    „ Das ist nett gemeint, aber am Durchblick lag’s nicht. Ich pack das schon.“
    „ Sicher.“
    „ Eigentlich war die Prüfung total easy. Wenn die Nachprüfung auch so wird, müsste ich nicht mal groß lernen.“
    „ Jetzt gib nicht so an. Gehst du mit mir zum Abi-Ball?“
    Ich musste schmunzeln.
    „ Ich denke, da geht man nicht miteinander hin.“
    „ Wenn du die Nachprüfung doch nicht schaffst, wird dir nichts anderes übrig bleiben“, stichelte sie.
    „ Ich schaff das auf jeden Fall.“
    „ Sehen wir uns übermorgen?“
    „ Na klar.“
    „ Ich ruf dich an.“
     

    Auf Wolke 7 schwebte ich die Treppe hoch. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie seltsam dieser Anruf war – wie seltsam vertraut angesichts unseres Rückfalls in entferntes Zuwinken nach der kurzen Annäherung beim Joggen. Da wollte jemand was zu Ende bringen, um sich neuen Opfern zuzuwenden.
    Quatsch! Ich war wieder ich. Vielleicht war das blaue Etwas nur ein Stresssymptom gewesen. Lohnte nicht, sich jetzt noch damit zu
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