Infektiöse Visionen (German Edition)
wieder verlassen, sich verflüchtigen und sich ein anderes Opfer suchen. Wäre er erst draußen aus mir, ich würde ihn nie mehr hereinlassen.
Jetzt! Da waren doch Stimmen! Hatte Vera nicht „Sebastian“ gerufen?
Ich lausche blind in die Finsternis. Was ruft mich da, wenn es nicht Vera ist?
Eingenickt oder auch nicht, schrecke ich plötzlich hoch. In diesen Momenten hier unten weiß ich wieder, was ich schon einmal vergessen habe: was es mit dem Dreck, den Binden und dem kleinen Knochen auf sich hat, die meine Mutter aus der im Müll entsorgten Jeans geholt und mir in meinem Zimmer unter die Nase gehalten hat. Dort, wo ich diese Sachen her habe, muss ich heute Nacht noch mal hin, und zwar mit allen, die mich retten kommen. Nur das ist Zweck der ganzen Aktion, weil ich der Aufgabe damals, allein hier unten, aus Mangel an physischer Kraft nicht gerecht geworden bin.
„ Dann sag mir jetzt, worin die Aufgabe besteht.“
Clarissas Stimme, ich höre sie laut und deutlich neben mir, obwohl ich doch in diesem Keller sitze. Hypnose ist schon ein selten verwirrender Zustand. Ich weiß ja, dass ich eben nicht in diesem Keller sitze. Das ist Vergangenheit, in die ich nur zurück geschickt wurde – und doch sitze ich wieder da und sitze zugleich in einem Sessel in Clarissa Tangels schwarzem Wohnzimmer.
„ Die Aufgabe ist, die Brüder freizulassen“, sage ich. „Einer ist es schon, den anderen holen wir heute Nacht. Und den Rest der Familie, aber das ist weniger wichtig.“
„ Welche Brüder? Was wollen sie?“
„ Die verfeindeten Brüder. Sie wollen es zu Ende bringen. Der Tod kam ihnen damals dazwischen.“
Das ist nicht ganz richtig. Aber der Bruder, der mich in Besitz genommen hat, gestattet sich keine andere Sichtweise – gestattet sie sich nur in seinem Unterbewusstsein, zu dem ich als sein Wirt gelegentlich Zugang habe im Gegensatz zu ihm selbst. So weiß ich sogar ein bisschen mehr als mein Kommandogeist. Aber was nutzt mir das, wenn er mir nicht glaubt?
„ Wer sind diese Brüder? Was wollen sie von dir?“
„ Der eine ist ganz Hass, der andere ganz Rache. Die Rache sitzt in mir. Den Hass gilt es freizusetzen zur Vollendung der Vergangenheit.“
Ich spüre Clarissas Ungeduld wachsen, und das amüsiert mich. „Kannst du vielleicht mal weniger blumig und verschlüsselt antworten! Worum geht es bei dem ganzen Wahnsinn?“
Ich kichere leise. Das bin nun ganz ich, und mein bescheidenes Schulwissen bringt auf einmal einen Hauch von Klarheit.
„ Es geht um Energieausgleich. Was sich in einem Leben an unerledigten Gefühlen anstaut, kann so gewaltig sein, dass es über den Tod hinaus als Kraftfeld fortbesteht. In diesem Fall sind es zwei gegeneinander gerichtete Kraftfelder. Hass und Rache, beides sind Formen reinster Energie. Nicht der Tod macht aus Physik eine Metaphysik, die Menschen sind es.“
„ Rache wofür?“, fragt Clarissa nach einem kleinen, leisen, besonders amüsanten Geräusch der Überforderung. Sie ist kleinlaut geworden, kommt sich dumm vor, Physik ist ihre Sache nicht. Metaphysik eigentlich auch nicht, aber das weiß sie nicht. Ich will mal nicht so sein. Auch meine Stärke ist ja eher die Mathematik. Der Sport wird es nie mehr sein.
Wie bitte???!
„ Rache für den Vatermord.“
Clarissa schnauft. Ungeduld ist beiderseits. Mir wird die Fragerei zu viel in meinem Keller. Die Aufgabe wartet.
„ Wessen Vater?“
„ Der beiden Brüder.“
„ Haben die vielleicht auch Namen?“
Wieder ein Kichern aus meiner Kehle. Diesmal, glaube ich, kommt es nicht von mir selbst.
„ Du glaubst doch nicht, dass wir dir alles auf die Nase binden“, antworten wir. Die Stimme des blauen, verfrorenen Frosches schwingt klirrend über meiner eigenen.
„ Wenn ihr beide schon tot seid, wie soll dann Rache überhaupt noch möglich sein“, fragt Clarissa. Nervige Hexe.
„ Still jetzt, genug gefragt. Sie kommen.“
Diesmal höre ich sie wirklich kommen. Die Stimme von Wendelin Forberig kann keine Einbildung sein, denn ihn hätte ich nun wirklich nicht hierher fantasiert. Der gehört ans andere Ende der Welt, auf immer und ewig. Ihn nur aus der Ferne zu hören, stellt mir schon alle Nackenhaare auf, und diese Ekelreaktion des Körpers zeigt mir auch: Er ist es wirklich, um ihn geht es. Er kommt näher, ein erster Höhepunkt baut sich auf.
Jetzt fällt mir wieder ein, was ich in dem Augenblick dachte, als die in mein Verlies eindrangen mit ihrer Funzeltaschenlampe: Herr Franz wird sich nie mehr
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