Infektiöse Visionen (German Edition)
den Kopf.
„ Das ist Unfug. Das Schloss ist vor Jahrhunderten niedergebrannt und komplett in sich zusammengestürzt. Es gibt nur noch Trümmer, und die sind von Wald überwuchert.“
Ich versuchte ihm anzusehen, ob er log, aber er schien völlig überzeugt von dem, was er sagte.
„ Ich denke, Sie sind bis vor kurzem ziemlich oft dorthin gewandert. Haben Sie sich nie näher umgeschaut? Und warum ist überhaupt das Wanderer-Gästebuch verschwunden? Mit Ihrer Hüfte hat das nichts zu tun, oder? Das war vorher.“
Eine Welle von Gedanken schlug mir entgegen. Bisher, wenn ich dieses Gefühl hatte, meinte ich, nur die Mimik anderer Menschen zu interpretieren – hier, vor diesem abstrusen Monsterhaus, war ich mir zum ersten Mal sicher, dass ich mehr las und verstand als nur Äußerlichkeiten in Gesichtern. Der Mann auf Krücken hatte Angst. Er war verwirrt. Er traute mir nicht und wollte doch unbedingt mehr wissen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Hatte Schmerzen. War einsam. Und wütend. Er trauerte. Das alles las ich in einer Sekunde, und noch ehe er etwas sagen konnte, das sowieso nicht dem entsprochen hätte, woran ihm lag, riet ich:
„ Es hatte mit den geheimnisvollen Einträgen zu tun, oder?“
„ Haben Sie etwa...?“
Ich schüttelte den Kopf.
„ Vor einer Stunde war ich das erste Mal überhaupt an diesem Ort. Kann ich das Buch mal sehen?“
Er schnaufte, nickte, machte einen Hinkeschritt zur Seite und deutete mit dem Kopf zum Türspalt.
Im Vorbeigehen fragte ich: „Wie haben Sie sich eigentlich verletzt?“
„ Bin vom Gerüst gefallen, da vorne am Seitenflügel. Mein Halbbruder Harry, der mir beim Renovieren half, ist dabei ums Leben gekommen.“
„ Harry Schmidt? Das war Ihr Halbbruder?“
Er brummte nur statt einer Antwort.
„ Aber wie konnten Sie denn beide von einem so stabilen Gerüst fallen?“
„ Keine Ahnung. Es war eine Art Erdbeben oder so was. Das ganze Ding hat gewackelt, aber ich hätte mich noch fangen können. Beim Versuch, Harry festzuhalten, hat es mich mit herunter gerissen.“
„ Das tut mir leid.“
Wir erreichten die Tür. Er ließ mich vorgehen, und aus dem milden Spätsommertag heraus trat ich ein in eine domartige, kältekonservierende Halle, die sich unmittelbar ohne Empfangsraum anschloss. Gegenüberliegend vom Eingang, vielleicht 15, 20 Meter entfernt, schwangen sich zwei spiegelbildlich verlaufende Treppenbögen ins nächste Stockwerk. Hallenboden und Treppenstufen waren aus glänzendem, weißem Marmor.
„ Bitte ziehen Sie die Schuhe aus“, verlangte Stubenfeuer, als er hinter mir die Tür zudrückte. Auch er ließ seine Arbeitsschuhe am Eingang stehen.
„ Benutzen Sie den Teppich.“
Ich war es nicht gewohnt, ohne Stiefel zu laufen, und musste aufpassen, nicht über meine etwas zu langen Hosensäume zu stolpern.
„ Wir gehen in die Bibliothek.“
Der Läufer, der die Steinfliesen der Halle wie ein Weg bedeckte, teilte sich. Wir folgten der linken Spur durch eine dunkel gebeizte Flügeltür in einen im gleichen Ton holzgetäfelten Raum mit Bücherregalen an allen Wänden vom Boden bis zur gut vier Meter hohen Decke. Im gegenüberliegenden Eck, wo vor einem Kamin zwei Sessel, eine Stehlampe und ein Tischchen standen, war eine einzige Reihe mit Büchern belegt – alle anderen Regale und damit wohl über 90 Prozent des Raumes waren leer.
„ Ein wirklich seltsames Haus. Als würde es seit Jahrhunderten darauf warten, endlich fertiggestellt, eingerichtet und bezogen zu werden.“
„ Da liegen Sie gar nicht mal so falsch“, brummte er und deutete mit der rechten Krücke auf die Sessel.
Wir nahmen Platz. Stubenfeuer legte seine Krücken neben sich ab und rückte seinen Hintern eine Weile zwischen den Polstern hin und her, bis er es bequem genug fand. Sein Gesicht entspannte sich etwas.
„ Also, wer ist überhaupt dieser Herr Forberig, der mich eigentlich sprechen wollte?“
„ Das ist kein Herr, sondern ein junger Kerl, der einen unglaublichen Kuddelmuddel ausgelöst hat, indem er sich in Ihr Gästebuch eintrug. Ich suche jetzt nach den Gründen und Zusammenhängen, weil meine Tochter in die Sache verwickelt ist und ich nicht mal ansatzweise verstehe, worum es wirklich geht.“
„ Wissen Sie, ich kenne die Einträge praktisch auswendig. Den Namen Forberig gibt es in dem ganzen Buch nicht.“
„ Wenn ich mal nachschauen dürfte? Bestimmt hat er ein Pseudonym verwendet oder so geschmiert, dass...“
„ Das Geschmiere war überhaupt das
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