Inferno
schien zu spüren, dass sie beobachtet wurde, denn in diesem Moment blickte sie auf und zog sich die Kopfhörer aus den Ohren.
Langdon hatte keine Ahnung, welche Sprache die Frau verstand, doch die globale Verbreitung von iPhones, iPads und iPods hatte zu einem Vokabular geführt, das ebenso universal zu sein schien wie die Mann-Frau-Piktogramme auf den Toilettentüren der ganzen Welt.
»iPhone?«, fragte Langdon mit einem bewundernden Blick auf das Gerät.
Die Miene der alten Frau hellte sich augenblicklich auf, und sie nickte stolz. »Was für ein schlaues kleines Spielzeug«, flüsterte sie mit britischem Akzent. »Ein Geschenk von meinem Sohn. Ich höre mir meine E-Mails an. Soll man das für möglich halten? Ich höre sie mir an! Dieser kleine Schatz hier liest sie mir vor! Eine Riesenhilfe bei meinen schlechten Augen.«
»Ich habe auch so eins«, sagte Langdon mit einem Lächeln, als er sich neben sie setzte, darauf bedacht, ihren schlafenden Ehemann nicht zu wecken. »Irgendwie muss ich es gestern Abend verloren haben.«
»Oh, das ist ja furchtbar! Haben Sie schon die ›Find-the-iPhone‹-App ausprobiert? Mein Sohn sagt …«
»Dummerweise habe ich diese App nie aktiviert«, gestand Langdon zerknirscht. Er sah die Frau verlegen an. »Es ist mir furchtbar peinlich, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir vielleicht für einen kurzen Moment Ihr iPhone auszuleihen? Ich müsste kurz online etwas nachsehen. Es wäre mir eine große Hilfe.«
»Aber selbstverständlich!« Sie zog den Stecker ihrer Kopfhörer aus der Buchse und drückte ihm das Gerät in die Hand. »Überhaupt kein Problem. Sie Ärmster!«
Langdon dankte ihr und nahm das Telefon. Während sie neben ihm munter weiterplapperte, wie furchtbar verloren sie sich fühlen würde ohne ihr iPhone, startete Langdon die Google-Suche und aktivierte die Diktierfunktion. Das iPhone piepste, und Langdon formulierte seine Frage.
»Dante, Divina Commedia , Paradiso, Canto fünfundzwanzig.«
Die Frau blickte überrascht auf – anscheinend kannte sie dieses Feature nicht. Während die Suchergebnisse auf dem kleinen Display erschienen, warf Langdon einen Blick zu Sienna, die neben dem Weidenkorb mit den Briefen an Beatrice stand und in einer Broschüre blätterte.
Nicht weit von ihr entfernt kniete ein Mann in den Schatten, den Kopf tief geneigt, und betete andächtig. Langdon konnte sein Gesicht nicht sehen, doch er spürte einen stechenden Anflug von Mitgefühl für den Burschen, der in seiner Einsamkeit hergekommen war, um Trost zu finden.
Langdon konzentrierte sich wieder auf das iPhone, und Sekunden später hatte er eine digitale Ausgabe der Göttlichen Komödie auf dem Display – kostenlos und Public Domain. Als dann auch noch Canto 25 auf der Seite erschien, staunte Langdon nicht schlecht über dieses kleine Wunder der Technik. Ich sollte allmählich aufhören, die Nase über alles zu rümpfen, was nicht in Leder gebunden ist , dachte er. E-Books haben definitiv ihre Vorteile .
Die ältere Frau beobachtete ihn, und in ihrem Gesicht regte sich allmählich Besorgnis, während sie etwas über die hohen Gebühren für Datenverkehr im Ausland murmelte. Langdon spürte, dass er sich beeilen musste. Er konzentrierte sich auf die Webseite vor seinen Augen.
Der Text war sehr klein dargestellt. Glücklicherweise erleichterte die schwache Beleuchtung in der Kirche das Ablesen des Displays. Erfreut stellte Langdon fest, dass er auf eine moderne Übersetzung gestoßen war. Sie klang vielleicht weniger poetisch als die älteren Versionen, dafür war sie verständlicher.
Langdon überflog den Text in der Hoffnung, möglichst schnell einen Verweis auf einen spezifischen Ort in Florenz zu finden – jenen Ort, wo il Duomino Dantes Totenmaske versteckt hatte.
Auf dem winzigen Display des iPhones wurden nur sechs Zeilen Text gleichzeitig dargestellt, und als Langdon die ersten Worte las, erinnerte er sich wieder an die Passage. In der Einleitung von Canto 25 bezog sich Dante auf die Göttliche Komödie selbst, die körperliche Anstrengung, die ihm die Niederschrift abverlangt hatte, und auf die sehnsuchtsvolle Hoffnung, seine himmlische Dichtung möge die wölfische Brutalität des Exils beenden, das ihn von seinem geliebten Florenz fernhielt.
Canto XXV
Zwäng einst dies heilge Lied, zu dem die Erde,
Zu dem der Himmel mir den Stoff gereicht,
Durch das auf lang ich blass und mager werde,
Die Grausamkeit, die mich von dort verscheucht,
Wo ich, ein
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