Inferno
Keine Sekunde zu früh, denn der warf ihnen soeben einen Blick über die Schulter zu.
»Alles in Ordnung mit Ihnen, Doktor?«, fragte sie unschuldig.
Ferris nickte und beschleunigte seinen Schritt.
Sie ist wirklich eine talentierte Schauspielerin , dachte Langdon. Aber was will sie mir sagen?
Als sie oben anlangten, konnten sie die gesamte Basilika einsehen. Die Kirche war in Form eines griechischen Kreuzes konstruiert, weshalb sie auch quadratischer wirkte als zum Beispiel der Petersdom oder Notre-Dame. Da die Strecke vom Narthex zum Altar kürzer war als in anderen westlichen Kirchen, wirkte der Markusdom nicht nur robuster, sondern auch zugänglicher.
Doch um nicht zu zugänglich zu erscheinen, befand sich der Hochaltar hinter einem von Säulen umrahmten Schirm, der von einem imposanten Kreuz gekrönt wurde. Dahinter erwarteten den Besucher der Baldachin und die wohl wertvollste Altartafel der Welt, die berühmte Pala d’Oro . Aufgetragen auf einem unendlich teuren Hintergrund aus vergoldetem Silber, war sie kein einheitliches Werk, sondern eine Art heterogene »Collage« aus verschiedenen Zeiten und Materialien in einem großen gotischen Rahmen. Den Ursprung bildete byzantinische Emaille, und dazu kamen dreizehnhundert Perlen, vierhundert Granate, dreihundert Saphire sowie Smaragde, Amethyste und Rubine. Zusammen mit den Rossen von San Marco galt die Pala d’Oro als einer der größten Schätze von Venedig.
In der Fachsprache der Architektur bezeichnete das Wort Basilika jede Kirche im östlich-byzantinischen Stil, die im Westen errichtet worden war. Der Markusdom war eine Replik von Justinians Apostelkirche in Konstantinopel und in ihrem Stil so ›östlich‹, dass viele Reiseführer sie als Alternative zu den osmanischen Moscheen anpriesen, von denen viele einst byzantinische Kathedralen gewesen waren.
Langdon würde den Markusdom zwar nie als Ersatz für die spektakulären Moscheen der Türkei akzeptieren, doch er musste zugeben, dass man seiner Leidenschaft für byzantinische Kunst auch mit einem Besuch der geheimen Kammern über dem rechten Querschiff dieser Kirche frönen konnte: dem sogenannten Tesoro , der alten Schatzkammer der Stadt. Dort lagen unter anderem zweihundertdreiundachtzig Ikonen, Schmuckstücke und Kelche, die man in Konstantinopel geplündert hatte.
Langdon war froh, dass es an diesem Nachmittag vergleichsweise ruhig in der Kirche war. Zwar waren noch jede Menge Touristen anwesend, doch wenigstens konnte man sich ungehindert bewegen. Langdon suchte sich einen Weg um die verschiedenen Touristengruppen herum und führte Sienna und Ferris zum Westfenster, wo die Besucher die Quadriga draußen auf ihrem Balkon bestaunen konnten. Langdon war zuversichtlich, dass sie den gesuchten Dogen identifizieren würden, aber er machte sich Sorgen, was den Schritt danach betraf: ihn zu finden .
Ist sein Grab gemeint? Oder eine Statue? Vermutlich würden sie dafür weitere Hilfe benötigen, denn in der Kirche, der Krypta und bei den Gräbern im Nordflügel standen Hunderte solcher Statuen.
Langdon entdeckte eine junge Frau, die gerade eine Touristengruppe führte, und unterbrach sie höflich. »Bitte entschuldigen Sie«, sagte er. »Ist Ettore Vio heute Nachmittag hier?«
»Ettore Vio?« Die Frau blickte Langdon seltsam an. »Sì, certo, ma …« Sie hielt inne, und plötzlich begannen ihre Augen zu leuchten. »Lei è Roberto Langdon, vero?« Sie sind Robert Langdon, nicht wahr?
Langdon lächelte geduldig. » Si, sono io . Ist es möglich, mit Ettore zu sprechen?«
»Si, si!« Die Frau bedeutete ihrer Touristengruppe, kurz zu warten, dann lief sie davon.
Langdon und der Kurator des Dommuseums, Ettore Vio, waren einmal zusammen in einem kurzen Dokumentarfilm über den Dom aufgetreten und seither in Kontakt geblieben. »Ettore hat ein Buch über die Kirche hier geschrieben«, erklärte Langdon Sienna. »Sogar mehrere.«
Sienna blickte noch immer seltsam nervös zu Ferris, der dicht bei ihnen blieb. Langdon führte die beiden weiter zum Westfenster, von wo aus man die Pferde sehen konnte. Als sie das Fenster erreichten, zeichnete sich die Silhouette der mächtigen Rösser im Licht der Nachmittagssonne ab. Draußen auf dem Balkon genossen Touristen den engen Kontakt zu den Pferden sowie das spektakuläre Panorama des Markusplatzes.
»Da sind sie ja«, rief Sienna und ging zu der Tür, die auf den Balkon führte.
»Nicht ganz«, sagte Langdon. »Die Pferde auf dem Balkon sind nur Repliken.
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