Inferno
und die Treppe hinauf noch nicht erholt.
»Ich sollte hinzufügen«, sagte Ettore, »dass der Doge die heilige Lucia so sehr liebte, weil er selbst blind war. Im Alter von neunzig Jahren stand er genau auf diesem Platz da draußen, ohne etwas zu sehen, und predigte den Kreuzzug.«
»Ich weiß, wer das ist«, sagte Langdon.
»Na, das will ich doch hoffen!«, erwiderte Ettore und lächelte.
Da Langdons eidetisches Gedächtnis bei Bildern weit besser funktionierte als bei abstrakten Sachverhalten, war es wieder ein Kunstwerk, dem er seine Eingebung zu verdanken hatte: eine berühmte Illustration von Gustave Doré, die einen alten, blinden Dogen zeigte, die Arme über den Kopf erhoben, während er die Menge anstachelte, sich dem Kreuzzug anzuschließen. Und auch den Titel der Illustration sah Langdon deutlich vor seinem inneren Auge: Der Doge Enrico Dandolo predigt den vierten Kreuzzug .
»Enrico Dandolo«, verkündete Langdon. »Der Doge, der ewig lebte.«
»Finalmente!«, rief Ettore. »Ich fürchte, Ihr Geist ist alt geworden, mein Freund.«
»Wie auch der Rest von mir. Ist er hier begraben?«
»Dandolo?« Ettore schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht hier.«
»Wo dann?«, verlangte Sienna zu wissen. »Im Dogenpalast?«
Ettore nahm die Brille ab und dachte kurz nach. »Geben Sie mir einen Moment. Es gab so viele Dogen. Ich kann mich nicht an alle …«
Ettore kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, denn eine verängstigt aussehende Reiseführerin lief herbei und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Ettore erstarrte, legte besorgt die Stirn in Falten und eilte zu einer Brüstung, von wo aus er in die Kirche hinunterschauen konnte. Einen Moment später drehte er sich wieder zu Langdon um. »Ich bin gleich wieder zurück«, rief er und lief davon.
Verwirrt ging Langdon zur Brüstung und blickte ebenfalls hinunter. Was ist denn da unten los?
Zuerst entdeckte er rein gar nichts außer Touristen. Dann fiel ihm auf, dass viele Besucher in dieselbe Richtung starrten: zum Haupteingang, wo soeben eine beeindruckender Trupp Soldaten in schwarzer Montur eintrat. Die Männer schwärmten aus und blockierten sämtliche Ausgänge.
Die Soldaten in Schwarz . Langdon krallte sich an die Brüstung.
»Robert!«, rief Sienna hinter ihm.
Langdon starrte weiterhin zu den Soldaten. Wie haben die uns nur gefunden?
»Robert!«, rief Sienna noch einmal, drängender als zuvor. »Hier stimmt etwas nicht! Helfen Sie mir!«
Verwirrt von Siennas Hilferuf wandte Langdon sich von der Brüstung ab.
Wo ist sie hin?
Einen Augenblick später sah er sowohl Sienna … als auch Ferris: Er lag vor den Rossen von San Marco auf dem Boden, und Sienna kniete über ihm. Ferris wand sich vor Schmerz und hielt sich die Brust.
KAPITEL 75
»Ich glaube, er hat einen Herzinfarkt!«, schrie Sienna.
Langdon lief zu Dr. Ferris. Verzweifelt rang der Mann um Atem.
Was ist mit ihm los? Langdon fühlte sich überfordert. Zuerst die Ankunft der Soldaten und jetzt Ferris, der sich auf dem Boden wand. Was mache ich jetzt?
Sienna kauerte über Ferris. Sie öffnete ihm die Krawatte und riss ihm das Hemd auf, damit er besser atmen konnte. Als Sienna Ferris’ nackte Brust sah, erhob sie sich ruckartig und stieß einen Schrei aus. Sie schlug die Hand vor den Mund und taumelte zurück.
Langdon sah es auch.
Die Haut auf Ferris’ Brust war stark verfärbt: ein bedrohlich aussehender blauschwarzer Fleck über dem Brustbein, so groß wie eine Grapefruit. Ferris sah aus, als wäre er von einer Kanonenkugel getroffen worden.
»Das ist eine innere Blutung«, sagte Sienna schockiert zu Langdon. »Kein Wunder, dass er schon den ganzen Tag nicht richtig atmen kann.«
Ferris drehte den Kopf. Er versuchte eindeutig, etwas zu sagen, doch mehr als ein Keuchen brachte er nicht zustande. Inzwischen versammelten sich Touristen um sie. Die Situation wurde immer chaotischer.
»Die Soldaten sind unten«, warnte Langdon Sienna. »Ich weiß nicht, wie sie uns gefunden haben.«
Die Überraschung und die Angst in Siennas Gesicht verwandelten sich rasch in Wut, und sie funkelte Ferris an. »Sie haben uns belogen, nicht wahr?«
Ferris versuchte wieder zu sprechen, brachte aber nur ein Röcheln hervor. Sienna durchsuchte seine Taschen, nahm seine Börse und sein Handy heraus und steckte sie ein. Dann stand sie auf und blickte anklagend auf ihn herab.
In diesem Augenblick drängte sich eine ältere Italienerin durch die Menge und schrie Sienna wütend an. »L’hai colpito al petto!«
Weitere Kostenlose Bücher