Inferno
Markusdom seinen Zweck erfüllt. Sie kannten den Namen des verräterischen Dogen, der Rössern den Kopf abschlug … und die Knochen der Blinden raubte.
Unglücklicherweise hatte Langdon nicht die geringste Ahnung, wo Dandolos Grab zu finden war, und offensichtlich galt das auch für Ettore Vio. Dabei kennt er jeden Zoll des Doms … und vermutlich auch des Dogenpalastes . Die Tatsache, dass Ettore nicht auf Anhieb gewusst hatte, wo sich Dandolos Grab befand, legte nahe, dass es woanders sein musste, auf jeden Fall nicht in der Nähe.
Aber wo?
Langdon blickte zu Sienna, die soeben eine Kirchenbank unter den Schacht schob und dann hinaufstieg. Sie öffnete das Fenster und hielt Ferris’ Handy in den Schacht.
Von oben drangen die Geräusche des Markusplatzes herein, und Langdon fragte sich plötzlich, ob es vielleicht doch einen Weg hier hinaus gab. Hinter den Kirchenbänken standen ein paar Klappstühle. Langdon nahm kurz Augenmaß. Der Schacht hinter dem Fenster sah breit genug aus für einen dieser Stühle. Und mithilfe eines Stuhles könnten sie das Gitter am oberen Ende erreichen. Vielleicht lässt es sich ja von innen öffnen …
Langdon ging durch das schummrige Licht auf Sienna zu. Er war erst ein paar Schritte weit gekommen, als ihn ein mächtiger Schlag gegen die Stirn zurückwarf. Der Professor sank auf die Knie. Im ersten Moment glaubte er, angegriffen worden zu sein. Dem war jedoch nicht so, wie er rasch begriff. Er verfluchte sich selbst, weil er nicht mehr daran gedacht hatte, dass die Krypta vor tausend Jahren nicht für Menschen seiner Größe gebaut worden war.
Als er dort kniete und darauf wartete, dass die Sterne vor seinen Augen verschwanden, entdeckte er eine Inschrift auf dem Boden.
Sanctus Marcus .
Er starrte sie für einen langen Augenblick an. Das Besondere an dieser Inschrift war nicht Markus’ Name, sondern die Sprache, in der sie verfasst war.
Latein .
Nachdem Langdon seit seinem Erwachen im Krankenhaus nur modernes Italienisch gehört hatte, verwirrte es ihn ein wenig, den Namen des Heiligen auf Latein geschrieben zu sehen. Doch dann fiel ihm ein, dass die Sprache zum Todeszeitpunkt des Evangelisten die Lingua franca im Römischen Reich gewesen war.
Und noch ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf.
Anfang des dreizehnten Jahrhunderts, also in der Zeit von Enrico Dandolo und dem vierten Kreuzzug, war Latein noch immer die Sprache der Mächtigen gewesen. Ein venezianischer Doge, der dem Römischen Reich durch die Rückeroberung Konstantinopels große Ehre gemacht hatte, wäre nie unter dem Namen Enrico Dandolo beigesetzt worden.
Henricus Dandolo .
Bei diesem Namen kehrte ein weiteres, lange vergessenes Bild zurück und traf Langdon wie ein Schlag. Und obwohl ihm diese Erleuchtung kam, während er in einer Kapelle kniete, wusste er, dass sie nicht göttlichen Ursprungs war. Die Inschrift hatte vermutlich einen schwachen visuellen Reiz ausgelöst, der seinem Verstand half, die Verknüpfung zu einer Erinnerung herzustellen. Das Bild, das so tief in Langdons Gedächtnis vergraben gewesen war, zeigte Dandolos lateinischen Namen … eingraviert in eine alte Marmorplatte, die wiederum in einen reich geschmückten Fliesenboden eingelassen war.
Henricus Dandolo .
Langdon stockte der Atem, als er den schlichten Grabstein des Dogen vor seinem geistigen Auge sah. Ich war schon mal da. Genau wie das Gedicht verhieß, war Enrico Dandolo tatsächlich in einem goldenen Museum begraben – einem Mouseion der Heiligen Weisheit –, doch damit war nicht der Markusdom gemeint.
Als er die Wahrheit erkannte, rappelte Langdon sich langsam auf.
»Ich bekomme noch immer kein Netz«, sagte Sienna. Sie kletterte aus dem Lichtschacht und trat zu Langdon.
»Sie brauchen auch keins«, brachte Langdon mühsam hervor. »Das vergoldete Mouseion der Heiligen Weisheit …« Er atmete tief durch. »Ich … ich habe einen Fehler gemacht.«
Sienna wurde kreidebleich. »Sagen Sie mir jetzt nicht, dass wir im falschen Museum sind.«
»Sienna«, flüsterte Langdon. Ihm war schlecht. »Wir sind nicht nur im falschen Museum. Wir sind im falschen LAND !«
KAPITEL 76
Draußen auf dem Markusplatz legte die Zigeunerin, die die venezianischen Masken verkaufte, gerade eine Pause ein und lehnte sich an die Außenwand des Doms. Wie immer hatte sie sich dafür ihren Lieblingsplatz ausgesucht, eine kleine Nische zwischen zwei Metallgittern im Boden, der perfekte Ort, um schwere Waren abzustellen und den
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