Inferno
erwachsenen Schauspieler hatten sie stets unterstützt, ohne herablassend zu sein. Siennas Freude war nur von kurzer Dauer gewesen. Sie hatte sich in dem Moment in Rauch aufgelöst, als sie am Premierenabend die Bühne verlassen und sich plötzlich einer Medienmeute gegenübergesehen hatte, während ihre Kollegen unbemerkt zum Hintereingang hinausgeschlichen waren.
Jetzt hassen die mich auch .
Im Alter von sieben Jahren hatte Sienna sich genug Wissen angelesen, um bei sich selbst eine schwere Depression zu diagnostizieren. Als sie ihren Eltern davon erzählte hatte, waren die genauso verwirrt gewesen wie immer, wenn die Seltsamkeit ihrer Tochter zum Vorschein kam. Trotzdem hatten sie Sienna zu einem Psychiater geschickt. Der hatte ihr viele Fragen gestellt, die ihr selbst schon längst in den Sinn gekommen waren, und ihr dann eine Kombination aus Amitriptylin und Chlordiazepoxid verschrieben.
Wütend war die kleine Sienna von der Couch gesprungen. »Amitriptylin? Ich will glücklich sein, kein Zombie!«
Man muss dem Psychiater zugutehalten, dass er angesichts ihres Ausbruchs vollkommen ruhig blieb und ihr einen zweiten Vorschlag unterbreitete. »Sienna, wenn du keine Medikamente mehr nehmen willst, dann können wir es gerne mit einer ganzheitlichen Therapie versuchen.« Er hielt kurz inne. »Es klingt, als wärest du in der Vorstellung gefangen, dass du nicht in diese Welt gehörst.«
»Das stimmt«, bestätigte Sienna. »Ich versuche es ja, aber es geht nicht.«
Er lächelte ruhig. »Und natürlich kannst du damit nicht einfach aufhören. Es ist für den menschlichen Geist unmöglich, an nichts zu denken. Die Seele giert nach Emotionen, und sie sucht nach immer neuem Brennstoff dafür … egal ob gut oder schlecht. Dein Problem ist, dass du ihr den falschen Brennstoff gibst.«
Sienna hatte noch nie jemanden so nüchtern über dieses Thema reden hören und war sofort fasziniert. »Und wie gebe ich ihr einen anderen Brennstoff?«
»Du musst deinen intellektuellen Fokus verlagern«, sagte der Psychologe. »Im Augenblick denkst du hauptsächlich über dich selbst nach. Du fragst dich, warum du nicht in die Welt passt und was mit dir nicht stimmt.«
»Ja, genau«, bestätigte Sienna. »Aber ich versuche, das Problem zu lösen. Ich versuche, mich anzupassen. Ich kann ein Problem ja nicht lösen, wenn ich nicht darüber nachdenke.«
Der Psychologe lachte. »Ich glaube, das Nachdenken über das Problem ist das Problem.« Er riet ihr, sich nicht länger über sich selbst und die eigenen Probleme den Kopf zu zerbrechen. Stattdessen solle sie ihre Aufmerksamkeit auf die Umwelt richten … und auf deren Probleme.
Von diesem Tag an hatte sich alles verändert.
Sienna verschwendete nicht mehr all ihre Energie auf Selbstmitleid, sondern entwickelte Mitgefühl für die anderen. Sie arbeitete für gemeinnützige Organisationen, gab in Obdachlosenheimen Suppe aus und las Blinden vor. Unglaublicherweise schien keiner der Menschen, denen Sienna half, ihre Andersartigkeit zu bemerken. Sie waren einfach dankbar dafür, dass sich jemand um sie kümmerte.
Sienna arbeitete immer härter, und schließlich konnte sie kaum noch schlafen, weil so viele Menschen ihre Hilfe brauchten.
»Sienna, mach langsam!«, ermahnten die Leute sie. »Du kannst nicht die ganze Welt retten!«
Was für eine schreckliche Aussage.
Durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit kam Sienna mit verschiedenen Mitgliedern örtlicher Wohlfahrtsorganisationen in Kontakt, und als diese sie zu einem einmonatigen Trip auf die Philippinen einluden, ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf. Sienna nahm an, das Ziel der Reise bestünde darin, arme Fischer und Bauern vor dem Hungertod zu retten. Sie hatte gelesen, das Land sei von unglaublicher Schönheit, voller bunter Korallenriffe und atemberaubender Ebenen. Doch als die Gruppe sich in den Slums von Manila einrichtete, der am dichtesten bevölkerten Stadt der Welt, verschlug es Sienna die Sprache. Sie hatte noch nie so viel Elend gesehen.
Wie kann ein einziger Mensch hier etwas bewirken?
Für jeden Menschen, dem Sienna etwas zu essen gab, starrten sie hundert andere hoffnungslos an. Manila litt unter unglaublichen Verkehrsstaus, erstickendem Smog und einer furchtbaren Sexindustrie, in der vor allem Kinder arbeiteten. Kinder, die von den eigenen Eltern an Zuhälter verkauft wurden, allerdings nicht aus Bosheit, sondern in dem Wissen, dass die Kinder auf diese Weise wenigstens etwas zu essen bekamen.
In diesem Chaos
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