Inferno
Flüssigkeit freigesetzt?« Sie ging zum Bildschirm und deutete auf eine winzige Markierung auf dem transparenten Beutel. »Unglücklicherweise verrät uns das hier, aus welchem Material der Beutel besteht. Können Sie das lesen?«
Langdons Puls raste. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, die Schrift auf dem Beutel zu entziffern. »Es scheint sich um ein Warenzeichen zu handeln. Solublon.«
»Das ist der weltgrößte Hersteller für wasserlösliche Kunststoffe«, verkündete Sinskey.
Langdon drehte sich der Magen um. »Wasserlöslich?«
Sinskey nickte ernst. »Wir haben Kontakt zum Hersteller aufgenommen, der uns aber nur sagen konnte, dass diese Art von Kunststoff in vielen Variationen hergestellt wird. Der Beutel kann sich in zehn Minuten auflösen oder in zehn Wochen … je nachdem. Die Geschwindigkeit hängt auch von der Zusammensetzung des Wassers sowie der Temperatur ab. Diese Faktoren hat Zobrist sicher mit einberechnet.« Sie stockte. »Wir glauben, dass dieser Beutel sich …«
»Morgen«, unterbrach der Provost sie. »Morgen ist das Datum, das Zobrist in meinem Kalender eingekreist hat. Es entspricht auch dem Datum auf der Tafel.«
Langdon hatte es die Sprache verschlagen.
»Zeigen Sie ihm den Rest«, forderte Sinskey den Provost auf.
Die Wiedergabe wurde fortgesetzt. Jetzt fuhr die Kamera über das Wasser, das rot zu glühen schien. Langdon zweifelte nicht daran, dass er den Ort aus dem Gedicht vor sich sah: die Lagune, in deren Wasser sich die Sterne nicht spiegeln.
Die Szene beschwor Bilder von Dantes Inferno herauf … der Fluss Cocytus, der durch die Höhlen der Unterwelt floss.
Wo auch immer diese Lagune lag, das Wasser war umgeben von steilen, moosbewachsenen Wänden, die von Menschenhand zu stammen schienen. Zudem hatte Langdon den Eindruck, dass die Kamera nur den kleinen Ausschnitt eines viel gewaltigeren Raums zeigte. Dieser Eindruck wurde durch die schwachen vertikalen Schatten an der Wand zusätzlich untermauert. Die Schatten waren breit, gleichförmig und immer im gleichen Abstand zueinander. Sie stammten von …
Säulen.
Die Decke dieser Höhle wurde von Säulen getragen …
… also sah er hier keine Höhle vor sich, sondern einen riesigen, von Menschen geschaffenen Raum.
Im Dunkel des Versunk’nen Palasts.
Bevor Langdon etwas sagen konnte, zog das Video wieder seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein Schatten erschien auf der Wand … eine humanoide Gestalt mit langer, krummer Nase.
Oh Gott …
Der Schatten begann zu sprechen. Seine Stimme klang gedämpft, und er redete in einem unheimlichen, poetischen Rhythmus:
»Ich bin eure Erlösung. Ich bin der Schatten.«
In den nächsten Minuten sah Langdon den angsteinflößendsten Film, der ihm je untergekommen war. Die Inszenierung und die Rede entsprangen zweifellos den Fieberfantasien eines wahnsinnigen Genies. Der Monolog des Bertrand Zobrist, vorgetragen in der Verkleidung eines Pestdoktors, strotzte vor Zitaten aus Dantes Inferno . Die Botschaft war klar und deutlich: Das Bevölkerungswachstum war außer Kontrolle geraten, und das Überleben der Menschheit stand auf dem Spiel.
»Nichts zu tun«,
intonierte die Stimme,
»hieße, Dantes Hölle heraufzubeschwören … überfüllt, voller Hunger und von Sünde zerfressen. Also habe ich kühn das Zepter des Handelns in die Hand genommen. Einige werden entsetzt zurückschrecken, doch die Erlösung hat ihren Preis. Eines Tages wird die Welt erkennen, welch Schönheit meinem Opfer innewohnt.«
Plötzlich trat Zobrist selbst ins Bild und riss sich die Maske herunter. Langdon starrte in das ausgemergelte Gesicht und die wilden grünen Augen. Das war also das Gesicht des Mannes, der diese Krise verursacht hatte.
Zobrist fuhr mit einer Liebeserklärung fort – gerichtet an jemanden, den er den Quell seiner Inspiration nannte.
»… in dem Wissen … dass ich die Zukunft in deine sanften Hände gelegt habe. Mein Werk ist getan, und jetzt ist die Stunde gekommen, da ich hervortreten muss aus enger Mundung … zum Wiedersehn der Sterne.«
Dann war das Video vorbei, und Langdon erkannte, dass die letzten Worte von Zobrists Monolog eine Reminiszenz an den Schluss von Dantes Inferno waren.
In der Dunkelheit des Konferenzraumes wurde Langdon bewusst, dass alle Ängste, unter denen er im Laufe des Tages gelitten hatte, plötzlich zu einer einzigen, furchterregenden Realität verschmolzen.
Bertrand Zobrist hatte ein Gesicht … und eine Stimme.
Die Lichter des
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