Inferno
aus Kinderprostitution, Bettlern, Taschendieben und Schlimmerem war Sienna plötzlich wie gelähmt. Überall sah sie, wie Menschen nur noch von ihrem Überlebensinstinkt getrieben wurden. Wenn wir verzweifelt sind, werden wir zu Tieren .
Dann kehrten die Depressionen zurück. Mit einem Mal sah Sienna die Menschheit als das, was sie wirklich war: eine Spezies am Rand des Abgrunds.
Ich habe mich geirrt, dachte sie. Ich kann die Welt nicht retten . Sie begann zu rennen.
Wie eine Wahnsinnige jagte sie durch die Straßen Manilas und bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen. Sie musste hier raus. Sie brauchte Luft.
Ich werde von menschlichem Fleisch erstickt!
Und während sie lief, spürte sie wieder die Blicke. Sie gehörte nicht länger zu der Welt ringsum. Sie war groß, hellhäutig und blond. Die Männer starrten sie an, als wäre sie nackt.
Als ihre Beine schließlich müde wurden, hatte sie keine Ahnung, wie weit sie gelaufen war oder wohin. Sie wischte sich Tränen und Dreck aus den Augen und sah, dass sie in einer Art Barackensiedlung stand, in einer Stadt aus altem Metallschrott, Pappe und Wellblech. Überall heulten Babys, und es stank nach menschlichen Exkrementen.
Ich bin durch das Tor zur Hölle gerannt.
»Turista«, schnaubte eine Stimme hinter ihr. »Magkano?« Wie viel?
Sienna fuhr herum und sah drei junge Männer auf sich zukommen wie gierige Wölfe. Sie wusste sofort, dass sie in Gefahr schwebte, und versuchte zurückzuweichen, doch die Kerle trieben sie in die Enge.
Sienna schrie um Hilfe, aber niemand reagierte. Wenige Meter entfernt saß eine alte Frau auf einem Reifen und schnitt mit einer rostigen Klinge den Schimmel von einer Zwiebel. Die Frau hob nicht einmal den Kopf, als Sienna schrie.
Als die Männer Sienna packten und in einen kleinen Verschlag zerrten, wusste sie ganz genau, was als nächstes geschehen würde. Die Angst drohte sie zu verschlingen. Mit aller Kraft setzte sie sich zur Wehr, doch die Männer waren stark und drückten sie auf eine alte, schmutzige Matratze.
Sie rissen ihr die Bluse auf und krallten sich in ihre weiche Haut. Als Sienna erneut um Hilfe schrie, stopften sie ihr ein zerrissenes Hemd so tief in den Rachen, dass sie zu ersticken glaubte. Dann drehten sie sie auf den Bauch und drückten ihr Gesicht in die stinkende Matratze.
Sienna Brooks hatte stets Mitleid für all die armen, unwissenden Seelen empfunden, die glaubten, man könne Gott im großen Leid dieser Welt erblicken. Nun betete auch sie … Sie betete voller Inbrunst.
Lieber Gott, bewahre mich vor dem Bösen.
Und noch während sie betete, hörte sie die Männer lachen. Sie begrabschten sie mit ihren schmutzigen Händen und rissen ihr die Jeans von den strampelnden Beinen. Einer von ihnen stieg auf Siennas Rücken. Er schwitzte und war schwer, und sein Schweiß troff auf ihre Haut.
Ich bin noch Jungfrau , dachte Sienna. Und das wird mein erstes Mal .
Plötzlich sprang der Mann von ihr herunter, und das spöttische Lachen wich schmerzerfüllten Angstschreien. Der warme Schweiß, der über Siennas Rücken rann, verfärbte sich plötzlich rot.
Als Sienna sich umdrehte, sah sie die alte Frau, die mit der halbgeschälten Zwiebel in der einen und dem rostigen Messer in der anderen Hand über Siennas Angreifer stand. Der Mann blutete stark aus einer Wunde am Rücken.
Die alte Frau funkelte die anderen Männer drohend an und fuchtelte mit ihrem blutigen Messer herum, bis die drei schließlich verschwanden.
Wortlos half die alte Frau Sienna beim Aufsammeln ihrer Sachen und beim Anziehen.
»Salamat«, flüsterte Sienna mit tränenerstickter Stimme. »Danke.«
Die alte Frau tippte sich ans Ohr und gab ihr auf diese Weise zu verstehen, dass sie taub war.
Sienna faltete die Hände, schloss die Augen und senkte den Kopf zum Zeichen des Respekts. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Frau verschwunden.
Sienna verließ die Philippinen sofort, ohne sich von den anderen Mitgliedern ihrer Gruppe zu verabschieden. Sie erzählte nie jemandem, was ihr widerfahren war. Anfangs glaubte sie noch, die Erinnerung an das Erlebte würde irgendwann verblassen, wenn sie sie immer wieder verdrängte. Doch das schien alles nur noch schlimmer zu machen. Noch Monate später wurde sie von Alpträumen geplagt. Sie fühlte sich nirgends mehr sicher. Sienna betrieb Kampfsport und erlernte schnell die tödliche Kunst des Dim Mak ; trotzdem blieb das quälende Gefühl allgegenwärtiger Gefahr.
Ihre Depressionen waren
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