Inferno
inzwischen schlimmer denn je, und bald fand sie überhaupt keinen Schlaf mehr. Jedes Mal, wenn sie sich die Haare kämmte, fielen große Büschel aus. Zu ihrem Entsetzen war sie binnen weniger Wochen halb kahl. Sie zeigte Symptome, die sie selbst als psychisch bedingten Haarausfall diagnostizierte. Stress war die Ursache dafür, und die einzige Heilung bestand in der Vermeidung von Stress. Doch jedes Mal, wenn Sienna in den Spiegel blickte, sah sie ihren kahlen Kopf, und ihr Herz raste.
Ich sehe aus wie eine alte Frau!
Schließlich blieb ihr keine andere Wahl, als sich den Kopf kahl zu rasieren. Jetzt sah sie zumindest nicht mehr alt aus, sondern nur noch krank. Doch sie wollte nicht wie eine Krebspatientin aussehen; also kaufte sie sich eine Perücke, band sich das blonde Kunsthaar zu einem Pferdeschwanz und sah wenigstens wieder halbwegs so aus wie früher.
Doch im Inneren hatte Sienna Brooks sich verändert.
Ich bin beschädigte Ware .
In dem verzweifelten Bemühen, ihr altes Leben hinter sich zu lassen, reiste sie nach Amerika und studierte Medizin. Sie hatte schon immer ein Interesse für Medizin gehabt. Vielleicht würde sie sich endlich wieder nützlich fühlen, wenn sie erst einmal Ärztin war. Sie wollte einfach nur irgendetwas tun, um den Schmerz dieser leidenden Welt zu lindern.
Trotz des umfangreichen Lernstoffs fiel ihr das Studium leicht, und während ihre Kommilitonen auch noch abends lernten, nahm Sienna einen Nebenjob als Schauspielerin an, um sich etwas hinzuzuverdienen. Es war zwar kein Shakespeare, doch dank ihrer Begabung kam ihr die Schauspielerei nicht wie Arbeit vor. Das Theater war im Gegenteil eine Zuflucht für Sienna. Dort konnte sie vergessen, wer sie war und jemand anderes sein.
Egal wer .
Seit sie sprechen konnte, war Sienna auf der Flucht vor sich selbst gewesen. Schon als Kind hatte sie ihren eigentlichen Vornamen abgelegt, Felicity, und sich stattdessen für ihren zweiten Namen entschieden, Sienna. Felicity hieß übersetzt ›die Glückliche‹, und glücklich war sie ganz und gar nicht.
Konzentrier dich nicht so sehr auf deine eigenen Probleme, ermahnte sie sich. Konzentrier dich stattdessen auf die Probleme der Welt.
Seit ihrer Panikattacke in den überfüllten Straßen Manilas bereitete ihr die Bevölkerungsexplosion auf der Welt Sorge. In diesem Zusammenhang stieß sie auf die Schriften von Bertrand Zobrist, einem Gentechniker, der eine Reihe äußerst kontroverser Thesen zur Überbevölkerung veröffentlicht hatte.
Er ist ein Genie , erkannte Sienna, als sie seine Arbeiten las. Nie zuvor hatte sie so von einem anderen Menschen gedacht. Je mehr sie von Zobrist las, desto stärker wurde das Gefühl, es mit einem Seelenverwandten zu tun zu haben. Sein Artikel »Du kannst die Welt nicht retten« erinnerte Sienna daran, was man ihr als Kind stets gesagt hatte … und doch glaubte Zobrist genau das Gegenteil.
Du KANNST die Welt retten, schrieb Zobrist. Wenn nicht du, wer dann? Wenn nicht jetzt, wann sonst?
Sienna studierte Zobrists Gleichungen und las seine Vorhersagen einer malthusianischen Katastrophe und des unmittelbar bevorstehenden Endes der menschlichen Spezies. Sie liebte seine hochwissenschaftlichen Spekulationen, merkte aber auch, dass ihr Stresslevel stieg, wenn sie in die Zukunft sah … die mathematisch garantierte Zukunft … so offensichtlich … unvermeidlich …
Warum sieht das keiner kommen?
Obwohl ihr Zobrists Ideen Angst machten, war Sienna von ihm geradezu besessen. Sie sah sich Videos seiner Vorlesungen an und las alles, was er je geschrieben hatte. Als Sienna hörte, dass er einen Vortrag in den Vereinigten Staaten halten würde, wusste sie, dass sie dorthin fahren musste. Wie sich herausstellte, war dies der Abend, an dem sich ihre Welt veränderte.
Ein Lächeln erstrahlte auf ihrem Gesicht, ein seltener Augenblick des Glücks, als sie an diesen magischen Abend zurückdachte. Erst vor wenigen Stunden – im Zug mit Langdon und Ferris – hatte sie sich schon einmal an diesen Abend erinnert.
Chicago. Der Blizzard.
Januar vor sechs Jahren … aber es fühlt sich wie gestern an. Ich stapfe durch die Schneewehen der windgepeitschten Magnificent Mile. Ich habe den Kragen hochgeklappt. Aber auch die Kälte wird mich nicht von meinem Ziel fernhalten. Heute habe ich die Chance, den großen Bertrand Zobrist zu hören … persönlich.
Der Saal ist fast leer, als Zobrist die Bühne betritt. Er ist groß … so groß. Und hat leuchtend grüne
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