Infinity (German Edition)
Lesen konzentrieren konnte. Trotzdem war es besser, sich hinter Buchseiten zu verstecken. Sonst kam womöglich noch die alte Frau, die eingekeilt zwischen einem Bauarbeiter mit Bierbauch im zementbespritzten Overall und einem Regenschirmträger mit verkniffenem Gesichtsausdruck bei der Tür stand, auf die Idee, sie zum Aufstehen aufzufordern. Eigentlich hatte sie deswegen ein schlechtes Gewissen. Aber sie war müde und mies gelaunt. Schlechte Voraussetzungen, um höflich zu sein. Der Lärmpegel war unerträglich hoch.
Plötzlich hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. In der Scheibe neben ihrem Kopf spiegelten sich helle Flecken – Gesichter, die zu irgendwelchen Menschen gehörten, die alle irgendwohin wollten. Sie schaute in die Dunkelheit des Tunnels. Der Trick war alt, aber gut. So konnte man sich unbemerkt die Leute ansehen, ohne dass es auffiel. Außer, der andere machte es genauso. Sie zuckte zusammen. Rasch drehte sie den Kopf und starrte in die Seiten ihres Buchs, bis scheppernd über die Lautsprecher »Hadersdorf-Weidlingau. Ausstieg links« angekündigt wurde. Hier musste sie raus. Unter gesenkten Lidern linste sie zur gegenüberliegenden Wagenseite. Doch der Platz des Mannes, dessen Blick sie im Fenster getroffen hatte, war leer.
Dass Klara immer noch nicht die One-and-only-Hammer-Idee für den Wettbewerb hatte, trug nicht gerade dazu bei, ihre Laune zu heben. Ohne Gruß warf sie ihren Rucksack auf die niedrige Kommode im Flur. Es roch nach Sauerkraut. Und undefinierbar nach Gebratenem. Mmhh … nicht übel. Ihr Magen meldete augenblicklich Hunger an.
»Hallo, Klara!«
»Hi.« Sie hatte vorgehabt, vor dem Essen noch schnell das Literatur-Forum anzuklicken. Und bei Skype nachzusehen, ob Richi online war. Vielleicht könnte er sie beraten …
»Kommst du kurz? Ich hab dich ja ewig nicht gesehen.«
Klara seufzte. »Gleich, Mama.« Sie schlüpfte aus den Schuhen und schob sie parallel nebeneinander unter die Kleiderablage. Ewig bedeutete bei Mama seit dem Morgen . Auch nach zwei Jahren hatte sie sich offenbar noch nicht daran gewöhnt, dass ihre Tochter eine Schule besuchte, in der der Unterricht nun mal länger als gewöhnlich dauerte.
»Willst du mir beim Kochen helfen?«
Klara küsste sie auf die Wange. »Hmmm …« Eigentlich nicht.
»In deinem Alter hab ich mich schon selbst versorgt. Und dich dazu.« Ihr Blick beschleunigte Klaras Herzschlag. »Wenn du den ganzen Tag unterwegs bist, solltest du wenigstens einen Snack zubereiten können. Es wird höchste Zeit, dass du was von der praktischen Seite des Lebens erfährst. Ich find’s ja toll, dass du in der Schule so gut bist, aber davon wirst du später auch nicht satt.«
Klara wusste, was jetzt kam. Besser, sie tat so, als würde sie sich für das Thema »Kochen« interessieren. Mamas Seelenheil zuliebe. Folgsam machte sie die Hände nass und formte nach ihren Anweisungen Knödel. Schön regelmäßig rund und alle gleich groß.
Mamas Lachen hatte etwas Gequältes. »So genau müssen sie auch nicht sein«, meinte sie mit einem Seitenblick auf das Wasser, das bereits im Topf blubberte. »Wir wollen ja heute noch essen.«
Klara zuckte mit den Schultern. Mama war eine Ausnahme. Sie gehörte zu beiden Kategorien. Manchmal schwer von Begriff und dabei immer davon überzeugt, es besser zu wissen. Wenn Klara es darauf anlegte, könnte sie täglich mit ihr streiten. Doch Mama war auch sonst eine Ausnahme. Bei ihr war alles einfach. Plus ist gut. Minus ist schlecht. Wie auf einem Kontoauszug. Mama eben.
Klara grinste und spritzte sie mit dem mehlgesättigten Wasser an, in das sie ihre Hände getaucht hatte. Gemeinsam blödeln gehörte eindeutig auf die Plus-Seite. Und mit Mama konnte man wirklich viel Spaß haben. Zumindest, solange sie sich nicht um Klaras Kochkünste sorgte.
_ 3 _
Der Fernseher drang gedämpft durch die Tür, die Klara schnell hinter sich zugezogen hatte. In wenigen Minuten würde Mama eingeschlafen sein. Genau genommen in dem Augenblick, in dem sie die Beine auf die Couch legte. Was kein Wunder war. Acht Stunden hinter einem Verkaufspult zu stehen und dabei immer höflich zu bleiben, auch wenn so manche verwöhnte Hausfrau sich nicht zwischen dem Brillantring und dem Perlencollier entscheiden konnte, stellte Klara sich megaanstrengend vor. Ganz zu schweigen von dem Frust, den ihre Mutter haben musste, wenn sie sich bewusst machte, wie weit dieser Job von dem entfernt war, wovon sie einmal geträumt
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