Infinity (German Edition)
»Engel oder Teufel?«
Lucie hob nun doch fragend ihren Blick. Sie musste das Funkeln in Klaras Augen bemerkt haben, denn sie machte einen Schritt zurück, als fürchtete sie einen erneuten Angriff.
Klara genoss den Anflug von Unsicherheit in den Augen ihrer Rivalin. Ihr Grinsen vertiefte sich noch weiter. »Dein Wettbewerbsthema! Damit kennst du dich doch bestens aus. Soviel ich weiß, war Lucifer ja einmal einer der mächtigsten Engel, bevor er überheblich wurde … Wetten, er ist dein großes Vorbild?«
Sie ließ Lucie stehen und sprintete Jonas hinterher, der bereits auf dem Weg zum Chemiesaal war. Kurz vor der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Ich persönlich tippe auf Teufel. Der passt einfach perfekt zu dir.«
Wie Lucie ihren Vorschlag fand, war schnell klar. Der gestreckte Mittelfinger, den sie Klara hinhielt, als sie kurz nach ihr die Klasse betrat und an ihr vorbei in die letzte Reihe ging, sprach Bände.
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»Los, komm! KoSo fängt gleich an!« Jonas griff nach seiner Mappe und nickte Klara aufmunternd zu.
Klara seufzte. Kommunikation und Sozialkompetenz gehörte zum Schwerpunkt, den sie zu Beginn des Schuljahres gewählt hatte. Aber es war nicht ihr Lieblingsfach. Nicht nur, weil auch Lucie in der Gruppe war, sondern weil Frau Schmidtbauer mit dem Spürsinn eines Drogenhundes jedes Mal ihren Finger auf Klaras wunden Punkt legte.
»Die Nächstenliebe gerät schnell ins Wanken, wenn das Stammhirn Bedrohung meldet«, war einer ihrer Lieblingssprüche. Und dabei schaute sie immer Klara an. Als ob sie etwas dafür könnte, dass die meisten Leute ihr auf die Nerven gingen. Irgendwie gehörte jeder zu einer der beiden Kategorien: die, die schwer von Begriff waren, und die, die alles besser wussten. Die erste Gruppe war ungleich größer. Außerhalb der Schulmauern gab’s so gut wie nur solche. Lucie aber zählte eindeutig zur zweiten Gruppe.
»Je größer der Einfluss ist, den ein Mensch kraft seiner Position und seines Denkvermögens nehmen kann, desto mehr sollten wir uns wünschen, dass er damit verantwortungsbewusst umgehen kann. Doch das muss er erst einmal wollen.«
Immer diese Blicke! Klara senkte den Kopf und kritzelte Männchen auf ihren Block. Sie war durchaus sozial! Oder hatte sie etwa nicht ihre Mikrowelle der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt? Voriges Jahr, als die Kantine renoviert wurde und sie sich im Aufenthaltsraum eine Behelfsküche eingerichtet hatten. Silvie und Sebastian, die Chemie-Nerds, hatten sich als perfekte Interimsköche hervorgetan – was wieder einmal zeigte, dass die Popperianer tatsächlich fürs Leben lernten. Klara hatte auch gleich ihren Gemüseeintopf lautstark gelobt. Also bitte, damit hatte sie doch eindeutig Sozialkompetenz bewiesen! Und Lucies technischer Einsatz war anschließend nur deswegen nötig geworden, weil sie unbedingt diesen bescheuerten Eier-Versuch machen wollte. Dabei weiß doch jedes Kind, dass dabei die totale Sauerei rauskommt. Wahrscheinlich hatte sie es absichtlich getan. Um Klara zu ärgern. Dass sie das Gerät nachher wieder instand setzte, dafür konnte sie echt kein Lob erwarten.
Klara merkte erst, dass sie den letzten Satz halblaut ausgesprochen hatte, als sie sich den fragenden Blicken der fünf anderen Kursteilnehmer gegenübersah.
»Wer hat deiner Meinung nach kein Lob verdient?« Frau Schmidtbauer war unerbittlich. Ihrer sanften, aber unnachgiebigen Art konnte man sich nicht entziehen. Klara suchte nach einer Erklärung, die ihr nicht noch einen weiteren Minuspunkt einbringen würde.
Ausgerechnet Lucie sprang für sie in die Bresche. »Jeder Mensch braucht Zustimmung. Lob und positive Zuwendung haben einen großen Einfluss darauf, wie gut die Leistungsfähigkeit umgesetzt werden kann.«
Klara klappte die Kinnlade nach unten. Was war das denn?
»Als zukünftige Führungskraft ist die Fähigkeit, in meinen Mitarbeitern deren Potenzial zu erkennen und es zu fördern, ein wesentlicher Bestandteil für ein funktionierendes Teamwork.«
Scheiße. Wenn sie damit für ihren Redewettbewerb trainierte, konnte sie sich einer Stimme bereits sicher sein. Frau Schmidtbauer saß in der Jury.
Die S-Bahn war knallvoll. Wie immer zur Stoßzeit. Mit Glück ergatterte sie einen Sitzplatz neben dem Fenster, als der Zug in der Station »Südtiroler Platz« hielt. Menschen drängten aus dem Abteil, doch viel mehr zwängten sich wieder herein. Sie holte ein Buch aus der Tasche, obwohl sie wusste, dass sie sich sowieso nicht aufs
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