Ingrid
ihren Hals los. Meine Demonstration hatte wenig Sinn, solange sich hier niemand um das Opfer beziehungsweise die Geisel scherte.
Cassie rieb sich über den Hals, räusperte sich und sagte mit fast wieder normaler Stimme: »Ich bin denen egal. Für dich ist es nur langweiliger ohne mich.«
»Es tut mir Leid«, sagte ich.
»Schon vergessen.« Sie bückte sich, um die Basttasche aufzuheben, die sie bei meiner Würgeattacke hatte fallen lassen. Sie holte ein Paar Pantoffeln heraus und dazu einen Schlafanzug in demselben dünnen Stoff wie ihrer, allerdings in leuchtendem Orange.
Ich hielt die Jacke hoch. »Nicht wirklich meine Farbe.«
Cassie ging zur Wand neben der Tür und drückte auf einen Knopf, der mir nicht aufgefallen war. Eine kleine Luke ging einen Spalt auf. Cassie öffnete sie ganz, reichte hinein und trug ein Tablett zum Tisch. Ich ging rasch zu der Luke hinüber und blickte in eine etwa einen halben Meter tiefe Durchreiche, deren andere Seite mit einer Klappe aus rostfreiem Stahl verschlossen war.
»Dein Tee wird kalt«, sagte Cassie, schob mich sanft zur Seite und schloss die Luke.
Ich unterdrückte meine Wut. »Warum bin ich hier?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Cassie.
»Pantoffeln in allen Größen? Ist das ein Entführungsbetrieb?«
»Die Gäste erzählen mir wenig beziehungsweise gar nichts.«
»Und der Chef?«
»Manchmal bekommen sie andere Kleidung.«
Ich ging ins Bad, um meinen neuen Pyjama anzuziehen. Cassie schenkte Tee ein, als ich zurückkam. Es waren zwei Tassen vorhanden, der Rest des Frühstücks schien nur für eine Person bestimmt zu sein. Die Tassen sahen aus wie aus Porzellan, waren aber aus Plastik, ebenso wie der Becher für den Orangensaft. Die Sandwiches waren fertig zubereitet, diagonal durchgeschnitten und mit Schinken und Käse belegt. Ich brauchte kein Messer zu benutzen, nur zu essen. »Ist bei dir Kost und Logis nicht inklusive?«
»Ich habe schon gegessen.« »Machst du diese Art von Arbeit öfter?«
»Man verdient gut dabei.«
Ich biss in ein Sandwich mit Käse. Ich merkte, dass ich Hunger hatte. Alles war sorgfältig angerichtet, mit Gurkenscheibchen, Tomate, ein wenig Gartenkresse. »Und wer bezahlt dich?«
»Ich weiß nicht, wie er heißt.«
Das war natürlich gelogen, aber es hatte wenig Sinn, die Atmosphäre durch Streitereien und Unter-Druck-setzen zu verderben. Ich aß und fragte mich dabei, ob der Koch die Mahlzeiten womöglich mit Schlafmitteln versetzte, um die Gäste ruhig zu halten, wie in Heimen für alte Männer, die dazu neigen, auf den Fluren die Schwestern zu belästigen. Aber ich war hungrig, und Schlaf würde mir gut tun, solange es nicht der ewige war. »Wie sieht dein Chef aus?«
Cassie schüttelte den Kopf. »Ich bin deine Gastgeberin, das ist alles.«
»Wie bist du an diesen Job gekommen?«
Sie zögerte einen Augenblick. »Über einen Escortservice.«
Keine Ninja, sondern ein Callgirl, das gleichzeitig als Serviererin fungierte. »Und was machst du morgen?«
»Morgen?«
Ich antwortete mit einer vagen Geste. »Ist die Zukunft ein zu schwieriger Begriff für Callgirls?«
Sie zog vor Verwirrung die Nase kraus. Sie hatte eine hübsche Nase. »Meinst du hiernach?«
»Wartest du darauf, dass der Mann deines Lebens auftaucht, oder verdienst du genug, um dir demnächst ein Haus mit Swimmingpool an der Riviera kaufen zu können? Arbeitest du ausschließlich in diesem Hotel?«
»Du versuchst, mich auszuhorchen«, stellte sie fest.
Ich seufzte. »Wie lange soll das hier noch dauern?«
»Die sorgen dafür, dass du die meiste Zeit schläfst.«
»Und du?«
»Ich habe es nicht eilig, ich werde pro Tag bezahlt.«
Wieder zauberte Cassie ein Lächeln auf ihr Gesicht, und es wirkte fröhlicher als ein reines Berufslächeln. Wahrscheinlich glaubte sie, dass es mit der körperlichen Gewalt jetzt vorbei sei und sie ungestört ihre Aufgabe in Angriff nehmen konnte, bei der sie mit wenig Arbeit viel Geld verdiente.
So schnell würde ich hier also nicht rauskommen. Ich hatte genügend Zeit, um darüber nachzugrübeln, wer mich entführt hatte und warum. Ich dachte an Gürbüz und an Harry die Rübe, der in erster Linie infrage zu kommen schien. Mir war nur schleierhaft, warum mich Harry in einer Luxusumgebung, wenn auch ohne Farbfernsehen im Zimmer, festsetzen sollte, anstatt mich irgendwo zwischen den Betonfundamenten für die neue Zugstrecke durch die Betuwe abzuladen. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass Gürbüz ein gutes Wort für mich
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