Ingrid
beinahe wäre ich errötet.
»Mehr nicht?«, fragte sie.
»Tommy wird es sehr gut haben«, sagte ich.
»Ich höre ein vages Zögern.«
Sie hatte Recht, auch was dieses Vage betraf, denn ich wusste nicht, wo mein Zögern herrührte. »Ich habe den Eindruck, dass Ingrid besessen von dieser Adoption ist«, sagte ich. »Vielleicht ist das normal, das müsstest du besser wissen als ich. Es wird sich schon legen, wenn ihr mit eurer Untersuchung fertig seid und der Richter sein Urteil gefällt hat. Wie lange wird das noch dauern?«
»Das kann schnell gehen«, sagte sie. »Wir sind praktisch fertig. Wenn es bei Gericht nicht zu viele Verzögerungen gibt …« Sie war mit ihren Gedanken nicht bei dem Verfahren. »Vielleicht liegt es daran«, sagte sie und nickte. »Diese Besessenheit. Und eine Art Angst?«
»Angst?«, fragte ich.
»Das plötzlich etwas dazwischen kommen könnte?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Aber dazu besteht doch gar kein Grund.«
»Nein. Alles sieht gut aus. Der Richter hält sich normalerweise an unsere Empfehlung, und die wird positiv ausfallen.«
»Diesen Schluss muss Ingrid doch auch selbst ziehen können«, sagte ich. »Sie weiß, was verlangt wird, und dass sie alle Voraussetzungen erfüllt. Warum sollte sie sich also Sorgen machen?«
Wieder zuckte sie mit den Schultern, dachte nach und sagte dann: »Sie ist so nervös wie eine Schwimmerin, die weiß, dass ihr Schiff noch kurz vor dem Ziel sinken kann.«
Ich lehnte mich begeistert zu ihr hinüber, schenkte ihr nach und sagte: »Ich kann Frauen einfach nicht widerstehen, die ihre Metaphern verhauen.«
9
Allein heißt nun mal allein. Nachts in einem Haus allein zu sein, das man kaum kennt, ist ein wenig ungemütlich, sogar für einen erfahrenen Expolizisten. Irgendwelche Gegenstände machen komische Geräusche und knarren verdächtig, obwohl sie einfach nur abkühlen, wenn nachts die Temperatur sinkt. Es spielt sich im Kopf ab. Hand in Hand mit einem geliebten Menschen hat das Dunkel nichts Furcht erregendes, aber wer mutterseelenallein durch die Nacht wandert, wird garantiert nervös vor sich hin pfeifen.
Da hörte ich das Geräusch wieder. Leises Rascheln, als würde sich eine in Segeltuch gehüllte Katze an der Backsteinaußenwand scheuern. Die Fensterläden standen offen, waren aber mit Haken befestigt. Es war absolut windstill; ich hörte kein Blätterrauschen oder Ästeknacken durch das Fenster, das einen Spalt offen stand. Dann hörte ich gar nichts mehr, weder drinnen noch draußen. Es war nur noch dunkel. Eine mondlose Nacht.
Ich schaltete die Leselampe ein, um auf den Wecker zu schauen. Halb zwei. Da ich nach eins tief und fest schlafe, war das der ungünstigste Moment, geweckt zu werden. Kein normaler Mensch wird nach so kurzer Schlafenszeit von selbst wach.
Ich schaltete das Licht aus und blieb still auf dem Rücken liegen, um mein elendes Katergefühl zu überwinden und zu horchen. Die Stille fühlte sich nicht gut an. Ich schwang meine Füße aus dem Bett und tastete im Dunkeln nach meinen Pantoffeln.
Ich ließ meine Pistole in ihrem Versteck oben in meinem Kleiderschrank. Ich bin hier auf dem Land, dachte ich. Wenn irgendeine Rotznase meinen Computer klauen will, kann ich den ja wohl noch mit bloßen Händen aus meinem Haus rausschmeißen. Ich öffnete geräuschlos die Tür und schlich im Dunkeln die verschiedenen Ebenen abenteuerlichen Wohnens hinunter. Sechs Stufen, nochmal drei Stufen und dann der kurze Flur zum Wohnzimmer.
Ich blieb auf den letzten, gefliesten Stufen stehen. Ich hörte nichts. Ich tastete nach dem Lichtschalter. Doch irgendjemand kam mir zuvor, an einem anderen Schalter, und das Licht ging plötzlich an. In Bruchteilen von Sekunden, halb geblendet, sah ich einen Mann mit der Hand auf dem Schalter neben der hinteren Glastür stehen. Ich nahm auch den Knüppel bewusst wahr, ich spürte ihn, hörte das Sausen oder das Rascheln von Kleidung, aber ich war noch zu verschlafen, um angemessen reagieren zu können. Ein anderer Mann musste direkt neben mir gestanden haben.
Der Schlag traf hart meinen Schädel, und ich fiel nach vorn. Der Name Gürbüz schoss mir durch den Kopf, doch ich war schon bewusstlos, bevor ich unten an der Treppe aufschlug.
Ich dachte, ich sei tot. Es war stockdunkel, ich spürte nichts. Das konnte nur der Tod sein. Dunkel und sonst nichts. Kein Himmel, geschweige denn Tunnel, an dessen Ende winkende Verwandte auf saftigen, überirdisch grünen Wiesen warteten.
Dann
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