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Ingrid

Ingrid

Titel: Ingrid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felix Thijssen
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dass die Lippe des Schlosses in der Öffnung einrastete.
    Ich lehnte mich ans Kopfende des Bettes und trank meinen Whisky. Ich hatte nirgendwo eine Kamera gesehen. Das musste natürlich nichts heißen, aber Kameras wären tatsächlich überflüssig, wenn es sich um ein Übergangsquartier handelte, in dem die Gäste sich normalerweise freiwillig aufhielten.
    Ich wusste nicht, wie spät es war und wie lange ich würde warten müssen. Wenn es acht Uhr abends war, saßen sie alle vor dem Fernseher und guckten die Nachrichten. War es zwei Uhr nachts, lagen sie vielleicht alle im Bett, bis auf den einen Nachtwächter vom Dienst.
    Ich schob meine Fingernägel hinter den Rand der Luke und zog die Tür auf. Es gab kein Geräusch, aber trotzdem wartete ich einen Augenblick.
    Nichts geschah. Die Luke befand sich in Brusthöhe, und ich schob einen Stuhl davor, um hineinzukommen. Ich arbeitete mich mit den Schultern nach vorn, bis mein Kopf das Metall auf der anderen Seite berührte. Es war eine Klappe, genau wie auf der Zimmerseite, allerdings ohne Schloss. Sie öffnete sich einen Spalt, als ich dagegen drückte. Mir wurde immer klarer, dass sämtliche Maßnahmen, wie etwa das Fehlen von Fenstern, nicht dazu gedacht waren, die Gäste einzusperren, sondern um zu verhindern, dass man sie von draußen bemerkte.
    Ich hörte ein leises Rauschen und sah flackerndes Licht, als ich die Klappe weiter öffnete. Genau gegenüber von mir stand ein Fernseher, dessen Lautstärke fast auf null gestellt war. Ich schaute hinunter und entdeckte in einem Sessel direkt unter mir einen Mann, der verschlafen den Blick zur sich öffnenden Luke hob und allmählich wach wurde.
    Mir wurde ein wenig schwindelig, vielleicht aufgrund meiner Position, und ich wurstelte mich so schnell wie möglich wie ein Aal nach vorn und ließ mich mit ausgestreckten Händen auf den Mann fallen. Er stieß einen Schrei aus und versuchte, mich von sich abzuschütteln, aber ich begrub ihn unter meinem Körper. Bevor er anfangen konnte zu schreien, bekam ich seinen Hals zu fassen, und wir taumelten alle beide aus seinem Sessel nach vorn.
    Ich hielt ihn fest, konnte eine Hand befreien und versetzte ihm einen Faustschlag an die Schläfe. Der Mann erschlaffte, und ich blieb erschöpft auf ihm liegen.
    Ich schüttelte den Kopf, um mein Schwindelgefühl loszuwerden, richtete mich auf und kniete mich neben meinen Bewacher. Der Mann war Mitte fünfzig, hatte ein bleiches, schmales Gesicht und trug einen verknitterten, grauen Anzug. Er sah nicht aus wie ein Gangster. Er hatte weder eine Waffe noch eine Brieftasche bei sich. Vielleicht war die irgendwo in einer Jacke. Während ich mich umschaute, merkte ich, wie der Schwindel stärker wurde, warum, verstand ich nicht. Mein Bewacher begann zu stöhnen und den Kopf zu bewegen.
    Irgendwas war in dem Whisky gewesen, begriff ich. Sie sorgen dafür, dass man die meiste Zeit schläft. Es wirkte viel zu schnell, ich schwankte. Es war ein Gefühl, als sei ich durch extremen Schlafmangel völlig ausgebrannt. Mein Körper schrie nach Schlaf.
    Ich hatte keine Zeit, nach Waffen zu suchen oder Informationen zu sammeln. Ich musste hier weg, bevor es mich umhaute.
    Ich sah eine Tür und ging hin. Ich torkelte durch einen Raum, dessen Wände und Fußboden um mich herum Wellen schlugen. Ich spürte kühlere Luft, trat einen Schritt nach vorn ins Leere und fiel nach unten.
    Bevor ich wusste, wie mir geschah, zwitscherten Vögel in meinen Ohren, blendete mich Tageslicht und jemand fing an zu rufen, von weit her und aus der Nähe zugleich: »He! Hallo! Was machen Sie denn hier? Wer sind Sie?«
    Ich versuchte, etwas zu sagen, aber meine Zunge war geschwollen und meine Kehle ausgetrocknet.
    »Ein Betrunkener«, sagte ein Mann.
    »Im Schlafanzug?« Das war eine Frau.
    Ich öffnete die Augen, sah ein Schild mit der Aufschrift EINGANG BÜROS und dann zwei Beine in Nylonstrümpfen, die mir die Sicht versperrten.
    »Hallo? Können Sie mich verstehen?« Sie hatte eine beruhigende Altstimme und hübsche Waden unter einem dunklen Rock, der an die Uniform einer Stewardess erinnerte.
    Ich blinzelte mit den Augen. Die Sonne stand tief hinter ihr und verlieh ihr die Aureole eines Engels. Röchelnd brachte ich ein paar Geräusche hervor und nannte meinen Namen.
    »Winter?«, verstand sie.
    »Dann wäre er aber in seinem Schlafanzug erfroren«, sagte der Mann in dem Versuch, witzig zu sein.
    Der Engel hockte sich neben mich. Sie hatte ein apfelförmiges Gesicht, umrahmt

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