Innere Werte
anders verhielt. Das musste wohl so sein, sonst wäre kaum zu erklären, warum Tobias ihn so mochte. Möglicherweise war er einfach zu jung und hatte wenig Lebenserfahrung, um den Arzt richtig einzuschätzen. Außerdem hatte Wellner dem Jungen immerhin das Leben gerettet, beziehungsweise verbessert. Kein Wunder, dass er eine gute Meinung von ihm hatte.
»Wir verfolgen natürlich noch andere Spuren. Wir fahnden unter anderem nach der Freundin dieses Bankkunden, die deiner Mutter das Auto zerkratzt hat.«
»Wie läuft so eine Fahndung? Ich meine, checken Sie alle Bahnhöfe und Flughäfen?«
»So in der Art.« Martin lächelte und erhob sich. »Ich will dich nicht länger stören.« Ihm war klar, dass Tobias nicht alleine war. Der Blick zur Treppe an der Haustür sowie der weibliche Parfumgeruch, der ihn umgab, waren deutlich genug.
»Sie stören mich nicht!«, sagte Tobias höflich.
»Ich denke schon.« Martin reichte ihm die Hand und verabschiedete sich.
Katrin hatte das Gespräch vom Treppenabsatz aus mitverfolgt. Als Tobias jetzt zurück ins Zimmer kam, sagte sie: »Es ist nur eine Frage der Zeit, dann entdecken sie mich hier. Vielleicht sollte ich freiwillig zur Polizei gehen.«
»Nein. Das solltest du nicht. Es ist schon manch einer unschuldig im Gefängnis gelandet. An deiner Stelle würde ich warten, bis die Sache geklärt ist.«
»Wer weiß, wie lange das noch dauert. Ich kann mich doch nicht ewig hier verstecken.«
»Meinetwegen schon.« Er zog sie in seine Arme. »Aber du hast recht. Es wäre sicherer, du versteckst dich woanders. Ich hab da auch schon eine Idee.«
57
Es war Montagmittag, der erste Arbeitstag nach Weihnachten, als es an Martins Bürotür klopfte.
»Herein!«, rief der Kommissar und blickte auf. Tobias Schulte erschien im Türrahmen. Er hielt ein Buch in der Hand und blickte Martin aus rot verweinten Augen an.
»Ich habe das hier im Schließfach in der Bank gefunden«, sagte er mit zittriger Stimme.
Martin war sofort aufgesprungen und dem Jungen entgegengegangen. »Komm, setz dich!«, forderte er ihn auf und stellte ihm einen Stuhl zurecht.
Tobias reichte ihm das Buch.
»Was ist das?«, fragte Martin und schlug die erste Seite auf.
»Das ist das Tagebuch meiner Mutter. Ich wusste nicht, dass sie überhaupt Tagebuch schreibt. Sie hat es wohl immer in der Bank in diesem Schließfach aufgehoben, dass ich heute Morgen geräumt habe, nachdem ich den Schlüssel gefunden hatte.« Der Junge sah völlig fertig aus und saß wie ein Häufchen Elend vor Martin.
»Du hast es gelesen?«
Tobias nickte.
»Was steht drin?«
»Sie können es selbst lesen. Sicher hilft es Ihnen bei Ihren Ermittlungen.« Er stand auf. »Ich würde jetzt gerne nach Hause gehen.«
»Soll ich dich bringen?«
»Nein, nicht nötig.« Martin blickte ihm hinterher und fragte sich, warum Tobias so mitgenommen war. Vielleicht, weil seine Mutter ihm durch das Tagebuch plötzlich wieder ganz nahe war? Oder offenbarten die Aufzeichnungen irgendwelche Geheimnisse?
Neugierig blätterte er im Buch. Die Eintragungen in sauberer Handschrift stammten aus den letzten zwei Jahren. An den Daten erkannte er, dass Anja Schulte etwa einmal pro Woche einen Eintrag gemacht hatte.
Martin begann auf der ersten Seite. Schon nach drei Seiten jagten ihm die Worte eine Gänsehaut über den Rücken. Er konnte die Augen nicht mehr von den Zeilen lassen und kaum glauben, was er las. Gleichzeitig verstand er nun endlich die Zusammenhänge.
Anja Schulte hatte mit irgendwelchen Leuten, die erst einmal nicht namentlich erwähnt wurden, einen schwunghaften Handel mit Nieren von Lebendspendern betrieben. Sie selbst schien für die Akquise zuständig gewesen zu sein. Offensichtlich waren es immer Bankkunden, die vor dem finanziellen Abgrund standen, die sich zur Organspende überreden ließen. Sie wurden regelmäßig mit fünftausend Euro abgespeist, während Anja Schulte bis zu fünfundzwanzigtausend Euro pro Niere verdient hatte. Martin wurde fast schlecht bei dem Gedanken, dass Anja Schulte Menschenteile verkauft hatte, nur um sich ihren verdammten Luxus leisten zu können.
Mein Gott, dachte Martin. Da hatte jemand tatsächlich Organhandel betrieben. Oder war sogar noch munter dabei! Menschen als Warenlager. Unglaublich!
Er wandte den Blick zur Wand, an der alle Informationen hingen. Er sah das Foto der Toten und er empfand Abscheu. Er sah die Liste vor sich, die mit LS betitelt worden war. LS! Jetzt war ihm klar, was das bedeutete.
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