Innere Werte
Lebendspender!
Sie hatten mit allen auf der Liste bereits gesprochen. Niemand kannte Anja Schulte. Lediglich zwei meinten, sie in der Bank mal gesehen zu haben. Wenn sie allerdings illegal ihre Niere verhökert hatten, würden sie wohl kaum zugeben, Kontakt zu der Toten gehabt zu haben.
Martin las weiter. Nach der Hälfte des Buches legte er es kurz zur Seite, stand auf und ging zum Fenster. Er blickte hinaus, ohne etwas wahrzunehmen. Was musste Tobias wohl empfunden haben, als er die Worte seiner Mutter gelesen hatte? Es musste ein Schock für ihn gewesen sein, das zu erfahren. Zumal er annehmen konnte, dass seine Mutter seine eigene neue Niere auch illegal besorgt hatte. Martin wusste, dass Tobias nur eineinhalb Jahre an der Dialyse verbracht hatte. Eine erstaunlich kurze Wartezeit, wie Dr. Hofnagel versichert hatte. Natürlich war es auch möglich, dass er aufgrund seines Alters so schnell ein Organ bekommen hatte. Aber es war doch ziemlich naheliegend, dass es gerade bei seiner Transplantation nicht mit rechten Dingen zugegangen war, wenn die eigene Mutter direkt an der Quelle saß. Wenn das so war, musste Steffen Wellner auch mit drinhängen. Er hatte Tobias schließlich ganz offiziell operiert.
Martin ging zurück zum Schreibtisch und suchte einen Hinweis darauf. Im Tagebuch war allerdings nichts erwähnt, was darauf schließen ließ. Er fand lediglich folgenden Eintrag:
Endlich ist es soweit! Tobi bekommt eine Niere. Endlich ist die Dialyse vorbei! Es war für uns beide eine anstrengende Zeit. Ich freue mich!
Die kurzen Passagen, in denen es um Tobias ging, handelten ausschließlich von seiner Niere. Von der gelungenen OP und seinem sich stetig verbessernden Gesundheitszustand. Von mütterlichen Ängsten war nichts zu lesen.
Viele Eintragungen waren an den Tagen geschrieben, an denen sie Geld aus ihrem Nebengeschäft bekam.
4.8.: Heute habe ich wieder mal Grund zum Feiern! Der Empfänger war ausgesprochen zahlungsfreudig, was mir die kleine Summe von 25.000 Euro eingebracht hat. Es ist immer wieder herrlich, wie leicht sich das große Geld verdienen lässt.
Hin und wieder ließ sie sich über Arbeitskollegen aus. Wobei sie nicht besonders zimperlich in ihrer Ausdrucksweise war. Besonders Rudolf Eltges bekam sein Fett weg und es war deutlich, dass sie ihn für ihre Zwecke ausgenutzt hatte.
Was war das nur für eine Frau gewesen?, fragte sich Martin. Die Antwort darauf konnte er sich geben, nachdem er das Tagebuch fertig gelesen hatte. Jetzt konnte er sich ein gutes Bild von ihr machen. Sie war eine egoistische, selbstbewusste, menschenverachtende, geldgeile Irre, urteilte Martin. Er schlug das Buch nach der letzten Seite zu, knallte die flache Hand darauf und schob es dann angewidert von sich.
Den Kopf in die Hände gestützt, saß er lange da und überlegte, was das alles für die weiteren Ermittlungen bedeutete. Die letzten Einträge hatte sie kurz vor ihrem Tod gemacht. Sie hatte beschrieben, dass sie sich mit ihm im Park getroffen hatte und sie vereinbart hatten, dass sie mit der Akquise zunächst pausieren sollte, solange die Polizei im Fall Bielmann herumstocherte. Das bedeutete, dass Bielmann ein Lebendspender gewesen und dummerweise bei der OP gestorben war. Anja Schulte nannte das einfach Pech. Aber immerhin konnte seine Niere erfolgreich verpflanzt und vor allem bezahlt werden, was für Anja Schulte offensichtlich das Wichtigste an dieser ärgerlichen Sache war. Scheinbar legte sie absolut keinen Wert darauf, zu wissen, was man mit dem restlichen Bielmann gemacht hatte.
Martin fiel Katrin Buhr ein. Sollte sie davon gewusst haben, hätte sie ein Motiv gehabt, Anja Schulte zu töten. Aber wie sollte sie ihr Opfer dazu gebracht haben, die Tabletten zu nehmen? Vielleicht unter Androhung von Gewalt?
Martin fuhr sich durch die Haare und dachte an Wellner. Sollte er derjenige sein, der diese illegalen Operationen durchgeführt und den Anja Schulte in ihrem Tagebuch immer nur als er bezeichnet hatte? Für Martin schien das naheliegend. Er als Transplantationsarzt, der Kontakt zu Anja Schulte hatte. Das konnte gar kein Zufall sein.
Martin hatte nicht den Eindruck, dass die Organisation sehr groß war. Aber das war mehr ein Gefühl, das sich beim Lesen entwickelt hatte. Sicher konnte er nicht sein.
Völlig fehlten Beschreibungen von ihrem Liebesleben. Es wurden keine Männer erwähnt. Lediglich Udo, womit sicher Gleisinger gemeint war, tauchte regelmäßig auf. Der Eintrag
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