Innere Werte
Erkennungsdienstes traf fast zeitgleich mit Martin ein, um ebenfalls der Obduktion beizuwohnen.
»Ich hoffe, meine Herren«, empfing Dr. Stieber die beiden, »Sie haben schon gefrühstückt?«
»Ist es nötig?«, fragte Martin skeptisch.
»Wäre von Vorteil. Der Anblick ist nicht das, was man schön nennt.«
»Solche Anblicke hatte ich in letzter Zeit eigentlich genug«, seufzte Martin.
»Na, so schlimm wie in der Kläranlage ist es bei Weitem nicht.«
»Na, dann«, Martin warf dem Kollegen einen zweifelnden Blick unter hochgezogenen Augenbrauen zu.
Stiebers Kollege Richard war ebenfalls anwesend und stand schon am Obduktionstisch, als die Männer eintraten. Heute Morgen lag nur eine Leiche auf einer der kalten Edelstahlplatten im Sektionssaal, daneben wie immer jede Menge Werkzeuge, die einem beim bloßen Anblick schon Schauer über den Rücken jagten. Ein makaberes Ambiente.
»Ist die Frau schon identifiziert?«, wollte Martin wissen.
»Soweit ich weiß, nicht.«
Sie traten an den Tisch und warfen einen ersten Blick auf die Tote. Sofort erfassten sie, was Stieber mit dem unschönen Anblick gemeint hatte. Der Unterkieferknochen war zertrümmert und blutiges Fleisch, in denen Knochenfragmente zu erkennen waren, entstellten das Gesicht auf unwirkliche Art und Weise.
»Wie in einem schlechten Horrorfilm«, sagte der Kollege vom Erkennungsdienst und wandte den Blick ab.
Der Hals-Brust-Bereich war stark gequetscht, ansonsten schien die Frau unverletzt. Sie war schlank, mittelgroß und hatte braune Haare. Man konnte erahnen, dass sie recht hübsch gewesen war.
»Unter die Räder gekommen«, sagte Stieber und deutete auf die Profilabdrücke auf der Haut.
»Fragt sich nur, wie und wann?«, warf sein Kollege ein.
»Auf jeden Fall können wir ausschließen, dass die Frau angefahren wurde. Denn dann hätten wir an den Unterschenkeln ein charakteristisches Bruchmuster. Es kann sich also nicht um einen Zusammenprall in aufrechter Position gehandelt haben. Auch die Verletzungen am Kopf und Oberkörper sind alles andere als typisch für einen Aufprall auf Motorhaube und Windschutzscheibe.«
»Das bedeutet also, dass die Frau schon auf der Straße gelegen hat, als sie überfahren wurde«, folgerte Martin völlig logisch.
»Das belegen auch ihre Schuhe.« Robert Richard griff nach einem Paar blauen Schnürschuhen und drehte sie so, dass alle die Sohlen sehen konnten.
»Ich sehe nichts«, sagte Martin.
»Eben! Es gibt keinen Schuhsohlenabrieb. Den gibt es immer, wenn man aus der Senkrechten von den Füßen geholt wird. Wenn die Frau im Gehen gewesen wäre, hätten wir den Abrieb auf einem Schuh gefunden, denn ein Fuß ist beim Gehen ja immer in der Luft, und wenn sie gestanden hätte, gäbe es den Abrieb an beiden Schuhsohlen.«
»Dann stellt sich die Frage: Warum lag sie auf der Straße?«
»Da gibt es vier Möglichkeiten. Erstens: Sie ist ohnmächtig geworden und auf der Straße zusammengebrochen. Zweitens: Sie wurde tot dort abgelegt. Drittens: Sie wurde bewusstlos dort abgelegt. Und viertens: Sie hat sich selbst auf die Straße gelegt, um Selbstmord zu verüben, was ich allerdings für ausgeschlossen halte. In Deutschland ist noch nie ein Fall bekannt geworden, wo sich jemand, in der Hoffnung überfahren zu werden, auf die Straße gelegt hat, von Schienenfahrzeugen mal abgesehen.«
»Na, dann hoffen wir mal, dass uns Ihre Fähigkeiten die Antwort liefern.« Martin verschränkte die Arme vor der Brust und hoffte, dass die Rechtsmediziner schnell arbeiteten, damit er hier möglichst bald verschwinden konnte. Er wünschte sich, dass der Tod dieser Frau tatsächlich ein Unfall gewesen war und er den Fall gar nicht übernehmen musste. Noch ein Mord war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte.
Stieber nahm die Leiche in Augenschein und begann, in sein Diktiergerät zu sprechen. Nach ein paar Minuten, wandte er sich den Polizisten zu.
»Die Antwort können Sie jetzt schon haben«, sagte er. »Denn«, er deutete auf die Hals- und Brustverletzungen, »hätte die Frau zum Zeitpunkt des Unfalles noch gelebt, hätte sie an dieser Stelle deutliche Hämatome.«
»Blutergüsse setzen einen funktionierenden Blutkreislauf voraus«, erklärte Richard. »Wenn der Kreislauf zum Erliegen kommt, gibt es maximal noch leichte Unterblutungen.«
Es waren erst einige Minuten vergangen, als sich der Rechtsmediziner plötzlich nah zum Bauch der Toten herunterbeugte. Die Augen leicht zusammengekniffen, als ob er so besser sehen
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