Innere Werte
Tagebuches reagiert hatte. Zunächst schien er völlig mitgenommen zu sein. Dann aber hatte er ein gewisses Verständnis für seine Mutter aufgebracht. Und das war ein Punkt, der Martin stutzig machte. Wenn man davon ausging, dass Tobias beide Tagebücher kannte, hätte er ihr Verhalten nicht noch entschuldigt. So etwas konnte man nicht verzeihen. Stellte sich die Frage, seit wann er den Inhalt des zweiten Buches kannte? Nicht erst seit gestern und heute, entschied Martin. Oder sollte er so anständig sein und es nicht gelesen haben, weil man Tagebücher von anderen nun mal nicht liest? Unsinn. Dann hätte er das erste auch nicht gelesen. Unter diesen Umständen war es umso erstaunlicher, dass ein junger Mann, der seine Mutter eigentlich hassen musste, noch bei ihr gewohnt hatte. Das waren Dinge, die Martin nicht in den Kopf gingen.
Das alles war furchtbar verwirrend und er fühlte sich wie in einem Labyrinth gefangen. Nichts als Sackgassen und Irrwege. Plötzlich dachte er an das Bild, das er bei Tobias im Zimmer gesehen hatte. Das selbstgemalte Aquarell mit dem Labyrinth und den Symbolen. Er erinnerte sich an seine Worte: War eine einmalige Sache … Ich hab mich mit Symbolen beschäftigt … Langeweile an der Dialyse … Man kommt auf so manche verrückte Idee.
»Drei Menschen können nicht zufällig gleichzeitig und einfach so verschwinden.« Dieter krauste die Stirn. »Da ist was oberfaul.«
Sie saßen zusammen im Besprechungsraum und tranken Kaffee.
»Was machen wir? Geben wir eine Fahndung raus?«
Martin saß schweigsam in der Ecke am Fenster und starrte abwesend nach draußen. Er dachte gerade darüber nach, warum Anja Schulte mit Kalium vergiftet worden war. Wie kam jemand auf Kalium? Dialysepatienten mussten sehr genau aufpassen, dass sie nicht zu viel davon mit der Nahrung aufnahmen. Zu viel davon würde zu Herzrhythmusstörungen führen. Tobias wusste das genau. Die Vermutung lag nahe, dass er auch wusste, dass Kalium beim gesunden Menschen in einer bestimmten Dosis tödlich sein konnte.
»Martin?«
»Was?« Er wandte sich den Kollegen zu.
»Was ist jetzt mit der Fahndung?«
»Ja, gebt sie raus. Für alle drei. Sicher ist sicher.« Er leerte seine Tasse, dann fragte er Dieter: »Kennst du dich mit Symbolik aus?«
»Was heißt auskennen.« Er zuckte die Schultern.
»Also ja. Dann fahren wir beide zu Tobias’ Haus und sehen uns was an. Und ihr zwei kommt auch mit. Ihr versucht diesen Freund, den Tobias erwähnt hat, zu finden. Vielleicht weiß der, wo er ist. Ich glaube, er hieß Frank, und Tobias sagte, er sei zu ihm rübergegangen. Also muss er ganz in der Nähe wohnen.«
83
Auch diesmal öffnete niemand die Tür des alten Kutscherhauses in der Biebricher Allee. Martin ließ die Tür vom Schlüsseldienst öffnen. Mit Dieter streifte er durch die Räume, die unverändert aussahen, bis sie vor dem Bild in Tobias’ Zimmer standen.
»Sieh’s dir an und sag was dazu«, forderte Martin seinen Kollegen auf.
Dieter fragte nicht erst, warum, sondern fing an, alles zu beschreiben, was er sah.
»In jeder Ecke ein anderes Symbol. Hier eine Spirale. Sie ist ein Zeichen für Erneuerung und Entfaltung. Gegenüber ein Pentagramm. Das symbolisiert die Gestalt des Menschen.«
»Für mich ist das ein fünfzackiger Stern«, sagte Martin.
»Und dahinein kannst du dir einen Menschen vorstellen, mit ausgestreckten Armen und Beinen. Gleichzeitig weist man den Ecken je ein Element zu.«
»Du meinst so was wie Feuer, Wasser, Luft und Erde?«
»Exakt, aber beim Menschen entspricht Feuer Körperwärme, Wasser Blut, Luft Atem, Erde Fleisch und als Fünftes kommt noch der Geist dazu. Deshalb ist die fünf auch die Zahl des Menschen. Andere sagen, die fünf steht für die fünf Sinne: Sehen, hören, riechen, schmecken, tasten.« Dieter trat einen Schritt näher an das Bild heran und kniff die Augen leicht zusammen. »Hier, siehst du die winzigen Buchstaben an den Ecken des Pentagramms?«
Martin nickte.
»S-A-L-U-S«, las Dieter die Buchstaben vor. »Das bedeutet soviel wie Heil , verkörpert also die Gesundheit.«
»Dieter, ich staune immer wieder. Was wären wir nur ohne dich?«
»Das große Labyrinth in der Mitte«, fuhr er, unbeeindruckt von dem Lob, fort, »ist ein Irrgarten, bei dem es nur einen Weg zum Mittelpunkt gibt. Man sagt auch, dass das ein Symbol für Schicksalswege ist.«
Beide suchten mit den Augen den richtigen Weg zur Mitte des Bildes.
»Hier sind auch Buchstaben«,
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