Innere Werte
die in schrecklicher Regelmäßigkeit immer an den Feiertagen eine Leiche gefordert hatten, unter Kollegen als die »Weihnachtsleiche« bekannt. Fast immer handelte es sich dabei um Beziehungsdelikte. Die Familien hockten an Weihnachten tagelang eng beieinander, und das führte oft genug zu stressigen Situationen, die bei dem einen oder anderen im wahrsten Sinne des Wortes zu Mord und Totschlag führten.
Erneut ging die Tür auf und Paul Fischer trat ein. Seine dunklen Haare standen in alle Richtungen ab, als wäre er gerade aus dem Bett gesprungen.
»Da ist er ja, unser Romeo«, begrüßte Michael den Kollegen, der ein wenig betreten in die Runde blickte.
»Halt die Klappe, Michael. Wenn einer hier den Romeo mimt, dann bist das ja wohl du.«
Michael lachte laut. »Mit Romeo habe ich nicht viel gemeinsam. Ich bin eher der Casanova-Typ.«
»Stimmt ja. Ich hab ganz vergessen, dass du dich nicht nur mit einer begnügst.«
»Immer eine zur Zeit, wohlgemerkt.« Michael ließ sich diesbezüglich nicht provozieren, denn Paul hatte schließlich recht. Er war das, was man einen Weiberhelden nannte. Keine seiner Beziehungen dauerte länger als drei Monate. Er genoss die Gesellschaft wechselnder Damen sichtlich. Frauen waren für ihn eher so etwas wie ein Hobby. Durch seine attraktive Erscheinung hatte er stets leichtes Spiel bei ihnen. Er war groß und schlank, hatte kurze braune Haare und hohe Wangenknochen. Die gerade Nase, die geschwungenen Lippen und seine tiefgrünen Augen, umrahmt von langen, dunklen Wimpern, gaben ihm eine sehr männliche Ausstrahlung. Oft war er unrasiert, wirkte verwegen und bewegte sich mit einer Lässigkeit, die das weibliche Geschlecht unwiderstehlich fand.
»Genug geplaudert«, unterbrach Martin seine Leute. »Wir haben Wichtigeres zu tun, als eure Weibergeschichten zu besprechen. Und was dich angeht, Paul, du lässt dich von Michael über das, was wir bisher wissen, in Kenntnis setzen. Dann fährst du zum Tatort und siehst dir alles an. Ich will, dass du weißt, wovon wir reden. In einer Stunde bist du spätestens zurück. Deine Standpauke bekommst du nachher.«
Minuten später machte sich Paul zusammen mit einem schlechten Gewissen auf den Weg zum Winterbruch. Er ärgerte sich, dass Nicole sein Handy ohne sein Wissen einfach ausgeschaltet hatte. Nur deshalb hatte er den Einsatz verpasst. Jetzt kam er sich vor wie ein dummer Schuljunge, der nachsitzen musste. Was sollte er denn im Dunkeln im Wald noch sehen? Zwar hatte er sich vergewissert, dass die Kollegen noch vor Ort waren, aber im Hellen hätte er sich sicher ein besseres Bild machen können. Wäre er nicht so feige gewesen, hätte er Martin das auch gesagt. Doch der Ton seines Chefs hatte keine Widerrede zugelassen. Paul war sauer auf sich selbst, dass er in letzter Zeit so unzufrieden war und seine Arbeit darunter litt. Er wusste selbst nicht, was mit ihm los war. Aber was er wusste, war, dass Martin sein Verhalten nicht mehr lange tolerieren würde. Und da Paul großen Respekt vor Martin hatte, riss er sich besser zusammen.
Es dauerte nicht lange und die Männer vom K11 wussten, wo Anja Schulte wohnte.
»Sobald Paul zurück ist, fahre ich mit ihm dahin«, erklärte Martin.
»Das können wir doch schon erledigen?«, schlug Dieter vor.
»Es ist rücksichtsvoll, dass du Paul das abnehmen willst, aber ich will, dass er die Nachricht überbringt.«
»Du weißt genau, wie schwer ihm das fällt.«
»Fällt es uns etwa leicht?« Fragend blickte Martin seine Kollegen an.
»Aber wir sind routinierter, was das angeht.«
»Ja, das weiß ich, und gerade deshalb.«
»Willst du ihn bestrafen, weil er zu spät gekommen ist?«, fragte Michael dazwischen.
»Quatsch. Es gehört zu unserem Job. Und in letzter Zeit bin ich nicht sicher, ob Paul auf Dauer dafür geeignet ist.«
»Dann soll das ein Test sein?«
»Ich will nur, dass er sich klar darüber wird, was es bedeutet, Ermittler beim K11 zu sein. Und Todesnachrichten zu überbringen, gehört nun mal dazu.«
27
Gegen zwanzig Uhr standen Martin und Paul vor der Tür von Anja und Tobias Schulte, wie das Klingelschild verriet. Das rustikale Kutscherhaus stand in zweiter Reihe und somit in absolut ruhiger Stadtlage. Ein idyllisches Hinterhaus, schätzungsweise um 1900 gebaut und vor nicht allzu langer Zeit komplett renoviert. Die Fassade war gelb verputzt, die Holzfenster rot abgesetzt und tannenbesteckte Blumenkästen schmückten die Fensterbänke beider Stockwerke. Ein
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