Innere Werte
war zurück in der Realität. Er öffnete und begrüßte die Pfarrerin Gellweiler, die ihn traurig anlächelte. Schnell teilte er ihr mit, was inzwischen passiert war. Als Tobias auf den Flur trat, war sein Gesicht tränenüberströmt. Nach zwei Schritten fiel er einfach in sich zusammen.
»Paul«, rief Martin, »ruf einen Arzt.«
28
Am nächsten Morgen waren alle früh auf den Beinen und trudelten nach und nach bei Martin im Büro ein. Paul war der Erste. Nach der Standpauke, die er gestern Abend noch von Martin bekommen hatte, wollte er es sich nicht noch mehr verscherzen und wenigstens pünktlich sein. »Na«, neckte Michael ihn, »heute gar nicht im Maldaner zum Frühstück?«
»Nein, heute begnüge ich mich mit der Brühe aus dem Automaten im Gang.« Dabei hielt Paul den Plastikbecher hoch und verzog das Gesicht.
»Wenn dir der Kaffee nicht schmeckt, trink ihn doch nicht«, sagte Dieter nüchtern und schüttelte den Kopf.
»Du weißt doch, die Sucht«, erwiderte Paul.
»Leute, es gibt was zu tun«, ließ Martin sich vernehmen und berichtete zunächst, was gestern Abend bei Tobias Schulte vorgefallen war. »Er ist über Nacht im Krankenhaus geblieben und wird heute früh um neun vom Schwager der Toten abgeholt und nach Hause gebracht. Paul, du fährst hin und sprichst mit Tobias und dem Onkel. Das ist ein Klaus Tinzmann aus München. Ich muss wissen, wie es Tobias geht und wann wir ihn befragen können. Außerdem will ich mich in der Wohnung von den Schultes umsehen. Dieter, du fährst zur Bero-Bank und hörst dich unter den Kollegen und bei ihrem Chef um. Michael und ich fahren in die Rechtsmedizin und sprechen mit Stieber. Vielleicht ist er noch bei der Obduktion. Den vorläufigen Bericht vom Erkennungsdienst haben wir um elf auf dem Tisch. Vielleicht sehen wir dann ein bisschen klarer. Bis jetzt kann ich mir nicht wirklich einen Reim darauf machen, was da im Wald passiert sein könnte.«
»Dass es sich um ein Tötungsdelikt handelt, scheint mir doch ziemlich offensichtlich.« Dieter nahm seine Nickelbrille von der spitzen Nase und begann, sie mit einem Hemdzipfel zu säubern.
»Würde mich wundern, wenn es dabei nicht um Sex geht«, überlegte Michael laut.
»Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand eine Frau bei dieser Saukälte sexuell missbraucht.« Paul schüttelte den Kopf. »Und wenn, warum wurde sie komplett ausgezogen? Damit hält sich doch kein Vergewaltiger auf.«
»Vielleicht sollte das sowas wie eine Strafe sein«, spekulierte Michael.
»Wie auch immer. Auf jeden Fall merkwürdig. Aber lasst uns die Berichte abwarten«, machte Martin den Spekulationen der Kollegen ein Ende. »Wir machen die erste Besprechung etwa um elf Uhr dreißig. Bis dahin seid ihr alle wieder zurück.«
Nachdem Martin seinen Chef Egon Milster und den Staatsanwalt über den bisherigen Kenntnisstand informiert hatte, machte auch er sich mit Michael auf den Weg. Die Straßen waren wegen überfrierender Nässe und extrem ängstlicher Autofahrer verstopft und sie kamen nur langsam voran. Zwanzig Minuten später hatten sie das Rechtsmedizinische Institut endlich erreicht und begrüßten Dr. Stieber im Sektionssaal. Hier herrschte reges Treiben und Martin musste bei diesem Anblick an die vielen Krimiserien im Fernsehen denken, die dem Zuschauer immer den Eindruck vermittelten, als arbeite ein Rechtsmediziner ganz allein im Keller in einem kalt wirkenden, eher dunklen Raum, in dem mittendrin nur ein Stahltisch mit der Leiche steht.
Im wirklichen Leben war doch alles ein wenig anders. Hier war es hell und es befanden sich drei Sektionstische nebeneinander, an denen meist parallel gearbeitet wurde. Martin sah mindestens sieben weitere Personen im Raum, neben den Rechtsmedizinern auch Assistenten und Medizinstudenten. Wie immer fiel ihm die gelöste Arbeitsatmosphäre auf, überall wurde geredet und ab und zu gelacht. Die Schrecklichkeit des Todes war hier nicht zu spüren. Vielleicht hatten die Menschen, die in solchen Berufen arbeiteten, besonders viel Spaß am Leben, weil sie täglich mit dem Tod konfrontiert wurden. Sie wussten besser als jeder andere, wie schnell das Leben zu Ende sein konnte. Das Einzige, was hier schwer zu ertragen war, war der Geruch. Denen, die hier arbeiteten, machte er nichts mehr aus. Aber für Martin und Michael war er immer wieder abstoßend. Er erinnerte an Fleischreste, die drei oder vier Wochen im Mülleimer vor sich hin gegammelt hatten. Ein Gestank, der sich ins Gehirn
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