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Innerste Sphaere

Innerste Sphaere

Titel: Innerste Sphaere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Fine
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blickte auf meine Hand. In meiner hohlen Hand … 
Nadias Hand
 … lagen Tabletten. Ich war wieder in ihrem Kopf. Sie wollte sich betäuben, zu müde und verängstigt, als dass sie sich um irgendetwas sorgen konnte. Tief in ihrer Brust fühlte ich es: eine alles zerfressende Leere, ein gähnender Abgrund. Sie wollte ihn mit diesen Tabletten füllen.
Nicht
, flüsterte ich, aber wie immer war sie taub für meine Worte. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, weiter den Flur hinunter zu einer offenen Tür am Ende des Korridors. Erleichterung durchströmte mich, sie war der Anweisung des Wächters gefolgt. Sie suchte sich eine Wohnung.
    Während ihr Kopf von Verlangen vernebelt war, schärften sich meine Sinne. Wo immer ihr Blick hinfiel, ich saugte alles in mich auf. Über den Gang verteilte Wandleuchter verströmten schwaches, grünliches Licht zwischen verschlossenen Türen, deren altrosa Anstrich abblätterte. Die blassorangefarbenen Wände waren von schwarzen Streifen durchzogen und der Boden war irgendwie pelzig.
Was zum
 … Schimmel wucherte wie Moos über den ganzen Teppich. Nadia hinterließ Fußspuren in der feuchten, matschigen Masse, während sie sich schwerfällig auf ihr Ziel zubewegte. Ihre Finger schlossen sich um die Tabletten. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.
    Etwas bewegte sich hinter ihr. Sie bemerkte nichts. Ihre Gedanken drehten sich einzig und allein darum, in diese Wohnung zu gelangen, sich auf den Boden zu legen und von den Pillen für eine Weile ausgeschaltet zu werden. Das gedämpfte Scharren von Füßen auf dem schimmligen Teppich hörte sie ebenso wenig wie die leise zischenden Atemzüge, die mit jeder Sekunde lauter wurden.
Schau dich um, Nadia.
    Sie tat es nicht. Sie schlurfte nur weiter auf die offene Tür zu, ohne das schwache, höhnische Lachen zu beachten, das wer auch immer hier im Korridor ausstieß.
Lauf
, rief ich.
Bitte, lauf
, flüsterte ich.
    Sie hörte mich nicht.
    Ihr Herzschlag war ruhig und regelmäßig in meiner Brust, aber meine Gedanken gehörten mir und sie standen unter Strom. Klar und deutlich hörte ich die schrille Stimme gackern: »Sie ist perfekt.« Meine Muskeln schmerzten vor Anspannung, als ich versuchte sie zum Laufen zu bringen, aber es war, als würde man im Wasser rennen. Sie kontrollierte alles und wir bewegten uns in ihrem Tempo.
Beeil dich. Wir sind fast da. Schließ dich in der Wohnung ein.
    Die Schritte wurden schneller. Sie waren jetzt genau hinter uns. Ich spürte den warmen Atem im Nacken und roch Verwesung, aber Nadia drehte sich nicht um, spürte nichts, roch nichts. Sie lehnte sich gegen den Türpfosten, stolperte in das Apartment und vergaß, die Tür hinter sich zu schließen …
    Am ganzen Körper zitternd spürte ich, wie mich eine eisige Windböe traf. Ich schlug die Augen auf. Jetzt stand ich hoch oben auf einem Hügel über dem Ozean mitten in niedrigem Gestrüpp. Ein dünnes orangefarbenes Band säumte den Horizont, als die Sonne aus dem Meer aufstieg. Die Wellen schlugen rhythmisch gegen die Felsen unter mir. Ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, wie zur Hölle ich hierher gekommen war. Ich dachte nur:
Hat sie es geschafft? Haben sie sie erwischt?
    In meiner hilflosen Frustration schrie ich den Himmel an: »Das ist nicht fair! Zuerst werde ich mit diesen Visionen bestraft und dann bekomme ich keine, wenn ich sie am dringendsten brauche! Was für eine schwachsinnige göttliche Gerechtigkeit soll das sein? Ich muss wissen, ob es ihr gut geht!« Ich machte einen weiteren Schritt nach vorne, näher ran an irgendjemanden, der da oben zuhörte. »Ich muss wissen, ob sie es geschafft hat. Bitte – oh, Scheiße!«
    Ein starker Windstoß erfasste mich, ich rutschte aus und stolperte über das Gestrüpp. Mit den Armen rudernd griff ich nach dem dürren, spröden Buschwerk, aber es zerbrach mir zwischen den Fingern. Mit der Hüfte und den Beinen prallte ich hart auf Felsen, als ich fiel, doch schon stürzte ich im freien Fall durch die Luft, direkt auf die scharfkantigen Felsen im Meer zu. Der Schrei, der sich von meinen Lippen löste, war klar und schrill.
O Gott o nein o nein nein nein nein …
    Sobald ich wieder zu Bewusstsein kam, war mir klar, dass ich tot war. Dieses hochfliegende Gefühl der Freiheit kannte ich aus der Nacht, in der ich versucht hatte, mich umzubringen. Ich wartete auf den Aufprall.
    Er kam nicht. Stattdessen erfüllte ein Gefühl der Zufriedenheit meine Brust, wuchs wie eine Seifenblase, hell und

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