Innerste Sphaere
mir landete und verursachte eine Art menschliche Massenkarambolage. Jetzt lagen kreuz und quer übereinander mehrere Personen vor den Füßen des Wächters, ich befand mich auf Händen und Knien kauernd ganz unten, aber direkt neben seinen Stiefeln.
Über mir wimmerten und stöhnten die glücklosen Opfer meines Plans. Der Wächter knurrte wütend. Beim Versuch sich aufzurappeln, rempelten ihn die Gestürzten an, sodass er ins Taumeln geriet. Ich griff an das Schienbein des Wächters, in der Hoffnung, dass alle Wächter ein Jagdmesser trugen, wie es auch der gefährliche junge Wächter bei sich gehabt hatte. Erfreut fand ich die Scheide am Knöchel. Als er ein paar Schritte rückwärts machte, löste ich den Lederriemen und zog das Messer hervor. Ich stopfte es mit einer Hand unter mein Shirt und drückte es gegen meinen Körper, bewegte mich auf meinen Knien Zentimeter für Zentimeter vorwärts. Mit meinem anderen Arm hielt ich die asiatische Frau fest, die wie ein Schutzschild auf meinem Rücken lag, und betete, dem Wächter würde nicht auffallen, wie ich mit seinem Messer wegkroch.
Meine Knie waren aufgeschürft und blutig, als ich endlich durch das Tor in die Stadt gelangte. Ich brach zusammen und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Von meinem Griff befreit, kullerte die alte Frau in den Dreck, stand auf und schlurfte weg.
Die rasiermesserscharfe Schneide kribbelte auf meiner Haut. Ich musste vorsichtiger sein – das Messer würde mir wenig nützen, wenn ich mich damit selbst erstach.
Ein Blick zurück auf den Wächter verriet mir, dass er meinen Diebstahl nicht bemerkt hatte. Er widmete sich wieder seiner Aufgabeund trieb die Leute durch das Tor. Dann sah ich mich auf dem Platz um, auf dem ich lag. Keiner beachtete mich. Ich stand auf.
Die Neuankömmlinge verteilten sich, hielten kurz inne, um sich zurechtzufinden, bevor sie weiterzogen. Befreit oder gefangen – ich konnte es nicht sagen. Als das Tor wieder zuknallte, wandte ich mich dem Innenleben der Stadt zu und nahm all jene Details in mich auf, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Altmodische Gaslaternen säumten die kopfsteingepflasterten Straßen und verströmten ein kränkliches, blasses Licht. Keine der Lampen erhellte mehr als einen Kreis von ein paar Metern und es blieben breite, dunkle Streifen unbeleuchtet. Anders als die Straßen selbst, die sich alle glichen, waren die Gebäude eine seltsame Mischung. Das zu meiner Linken war eine Art moderner Bürobau, alles im rechten Winkel, reflektierendes, graues Glas und Metall. Rechts am Rand des Platzes kauerte behäbig ein allmählich zerbröckelndes Lehmziegelhaus. Ostküste trifft den Südwesten. Die Stadtplaner in der Hölle hatten entweder einen miserablen Geschmack oder einen seltsamen Sinn für Humor.
Wie die Menschen um mich herum stapfte ich langsam voran, obwohl ich am liebsten ins nächste Versteck gehechtet wäre. Gebeugt ging ich weiter, einen Arm auf den Bauch gepresst, als wäre ich verletzt, und hoffte, die Wächter, die mich sahen, würden nicht vermuten, dass ich eine Waffe versteckte. Meine Hose war an den Knien blutgetränkt, was wohl ins Bild passte. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich endlich von der Hauptstraße in eine Gasse abbiegen konnte.
Am Eingang zu der Gasse hockte ich mich erst einmal hin und horchte, ob sich dort Dinge unter dem Mantel der Dunkelheit verbargen, denen ich nicht begegnen wollte. Als ich nichts hörte, tauchte ich in die Düsternis ein und konzentrierte mich auf das, was ich sah.
6
Jahrelang hatte ich in oder in der Nähe von Providence gewohnt. In Boston war ich viele Male gewesen. In der Mittelstufe hatten wir sogar eine Exkursion nach New York City gemacht. Die dunkle Stadt hier hatte mit diesen Städten nichts gemein.
In Städten überwältigten mich die Gerüche. Diesel und Staub, scharf und salzig, stechend und aggressiv, sie rieben sich an meiner Haut und blieben mir in der Nase hängen. In der schwarzen Stadt waren die Düfte blass und dünn – nichts, was man festhalten konnte, nichts, was mich abstieß, nichts, was mich in seinen Bann zog.
In normalen Städten durchdrang das Licht selbst die tiefste Nacht, strahlte von Neonröhren und riesigen Fernsehern und blinkenden Werbetafeln. In der schwarzen Stadt sog etwas das Leben aus den Farben. Etwas Unersetzliches war daraus verschwunden, das die Finsternis mühelos bezwang.
In normalen Städten hatten die Geräusche Tiefe. Alle Töne und Rhythmen überlagerten sich und
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