Inquisitor: Drei Romane in Einem Band. Mit Bonusmaterial: "Die Innere Bestie" [u.a.]. Ian Watson. Mit Einer Einf. Des Autors. [Dt. Übers. Von Walter Brumm Und Christian Jentzsch].
tot.«
»Betrachte meine Ballade als
Sanduhr. Wenn sie fertig ist, sollten wir uns besser davonmachen. Und sag mir nicht,
dass wir Rakel ins Gerichtsgebäude folgen werden! Das werde ich nicht tun,
Chef. Der Tempel war eine andere Sache ... Es gibt da eine Ballade vom
Stiefel . Sie handelt von einem gaunerhaften Gedrungenen, der in seinem
Piratenschiff als Freibeuter überall herumkam.« Grimm hob einen schmutzigen
bloßen Fuß und kratzte mit hornigem Fingernagel daran. Er löste verkrusteten
Schmutz und Hornhaut. Ein neues Paar Stiefel nach Maß war in Auftrag gegeben.
Die Anfertigung sollte eine Woche dauern. Anschließend mussten sie weichgeklopft
und eingeölt werden, um Hühneraugen vorzubeugen.
»Ach, Johann Fedelor, du musst
dich schon entscheiden«, murmelte Jaq.
»Was? Soll das eine Anrufung
sein, Magus?« Jaq lief ein leiser Schauer über die Haut. »Esto quietus, Loquax!«, befahl er. »Ich muss meditieren.«
»Ich auch«, sagte Lex streng.
Zwei Stunden vergingen, bevor
Rakel wieder zu ihnen stieß. Als sie kam, setzte Jaqs Herzschlag aus. Plötzlich
war seine Meh'lindi wie aus dem Nichts aufgetaucht, als ob sie in diesem
Augenblick aus dem Meer der verlorenen Seelen auferstanden und Gestalt angenommen
hätte.
»Es ist mir gelungen«, sagte
sie.
Zwischen Daumen und Zeigefinger
der linken Hand hielt Rakel etwas in die Höhe, was wie ein Datenträger aussah.
Nein, es war ein fettiger Klumpen, von dem ein letzter Rauchfaden aufstieg, der
plattgedrückte letzte Überrest von Chor Shuturbans Finger, jetzt so gut wie vollständig
verzehrt. Dieser Rest hatte ihre Rückkehr ins Lagerhaus verborgen — sogar vor
Jaqs psionischer Sensibilität.
In Rakels anderer Hand hing
eine schwere Ledertasche.
Dunkel gekleidet und mit geschwärztem
Gesicht, mit zwei tödlichen Ringen an den Fingern, war Rakel durch den
unbenutzten Abwasserkanal in die Kellerverliese des Gerichtsgebäudes
eingedrungen. Vereinzelte Lichtquellen glommen rötlich in der vorherrschenden
Dunkelheit. Leise durcheilte sie einen Gang zwischen Kerkerzellen, hörte
Stöhnen hinter Stahltüren, dann Gelächter aus einer Wachstube, deren Tür halb
offen stand und helles Licht in den Gang fallen ließ. Sie drückte sich daran vorbei
und erstieg eine Steintreppe zu einer höheren Kellerebene, die sich als
Labyrinth aus Lagerräumen erwies; dann stieg sie weiter hinauf ...
In der Villa hatte sie Stunden
damit verbracht, sich am Bildschirm den Grundriss und die verschiedenen
labyrinthischen Ebenen des Gerichtsgebäudes einzuprägen, das eine festungsartig
abgeschlossene, komplexe Stadt für sich war. Ohne dieses Studium hätte sie sich
hoffnungslos verirrt und wäre verloren gewesen wie eine verlegte Gerichtsakte
in einem großen Archiv.
Sie vermied die Innenhöfe und
bevorzugte dunkle Korridore, und wie sie von Schatten zu Schatten glitt, war
sie die Verkörperung der Dunkelheit. In den oberen Geschossen waren barocke
Kugellampen eingeschaltet, und es herrschte mehr nächtliche Aktivität. Unter den
Gewölbedecken von Skriptorien saßen Justizangestellte vor Bildschirmen und an
Schreibtischen. Obwohl dieses Gerichtsgebäude erst Jahrzehnte alt war, hatte
man bereits Berge von Dokumenten und Gerichtsakten erzeugt, als ob der Ort ein
gewaltiger Nährstofftank wäre, in dem sich Datenbakterien exponentiell
vermehrten, ohne einen notwendigen Bezug zu dem, was jenseits der Grenzen ihres
Tanks lag, wo vielleicht andere Bakterienstämme um die Vorherrschaft rangen, je
nach den verschiedenen Ansichten der Richter in ihren Straf- und Zivilkammern.
Gerichtsdiener trotteten mit
Bündeln von Computerausdrucken durch die Korridore. Kybernetische Senatoren
rollten gemächlich umher, saugten Staub und zu Boden gefallene Papiere auf.
Langsam rotierende
Ventilatoren, die an Pterosaurier aus Messing gemahnten, bewegten Papiere und
ließen sie von Schreibtischen flattern. Sorgten die Ventilatoren nicht für
Luftzirkulation, mochte sich abgestandene Luft in erstickenden Nischen
ansammeln.
Gittertüren führten in
Waffenkammern, wo auch Amtsstäbe und zeremonielle Peitschen aufbewahrt wurden.
So wie die Wahrheit aus dem
verhüllenden Nebel der Verwirrung hervortritt, nahmen Helligkeit der
Beleuchtung und Aktivität in den oberen Stockwerken des Gerichtsgebäudes zu.
Nun wurden Rakels dunkle Kleidung und ihr geschwärztes Gesicht verräterisch.
Sie nahm Zuflucht zum Finger
des Ruhms und zündete die Spitze mit einem Feuerzeug an. Eine weich schimmernde
Flamme
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