Ins dunkle Herz Afrikas
Land, in dem sie so glücklich gewesen war.
Als sie den letzten Satz getippt hatte, sanken ihre Hände in den Schoß. Luise beschrieb ein Paradies, in dem alles im Einklang war. Tier und Mensch lebten friedlich miteinander, Schwarz und Weiß, Löwe und Antilope. Nichts Grausames oder Böses störte die glatte Oberfläche, kein Kräuseln verriet das lauernde Krokodil. Sie schrieb über einen Ort im Nirgendwo, geschützt gegen das Böse, wie das mythische Königreich Shangri-La, in dem die, die reinen Herzens waren, für immer lebten.
Sie setzte die Haube auf die Schreibmaschine. Luise muss gewusst haben, dass es so nicht wirklich gewesen sein kann, dachte sie, nicht in Afrika, wo der Stärkere den Schwächeren verschlingt, sobald sich ihm nur eine Gelegenheit bietet.
Es war warm draußen, und sie machte sich für einen Spaziergang fertig. Hatte sie ein Problem, das sie überdenken musste, lief sie den Elbwanderweg hinauf und hinunter, stand am Ufer, sah den Möwen
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nach und den großen Schiffen, die ausliefen, um die Erde zu umrunden, beobachtete die Hafenbarkassen, die die Schauermänner zu den Pieren brachten, und plötzlich wusste sie es. Auch Luise hatte ins dunkle Herz Afrikas gesehen, und es war zu viel für sie gewesen. Um sich gegen die Wirklichkeit zu schützen, hatte sie diese Geschichten geschrieben, die erzählten, wie es eigentlich hätte sein sollen, nicht, wie es war.
Zufrieden machte sie sich auf den Heimweg. Die Schreibmaschine stand noch auf dem Esstisch, der Stapel Hefte daneben. Sie nahm die Haube ab, spannte einen Bogen Papier ein und begann über ein Afrika zu schreiben, das schön war und großartig, das herausforderte und den vernichtete, der nicht auf der Hut war, aber das stark machte und spüren ließ, dass man lebte. Hier hatte der Mensch seinen Platz, nicht als Herrscher und Eroberer. Wollte er überleben, musste er nach Afrikas Regeln leben, als ein Teil der Natur, so wie es eigentlich gedacht war.
Sie schrieb und versetzte sich dabei so sehr in das Land, das ihre Heimat war, dass sie Sonnenwärme fühlte, wo keine war, und der Indische Ozean in ihren Ohren rauschte, wenn um sie nur die Stille des leeren Hauses herrschte. Viele Stunden am Tag verbrachte sie in Afrika. Der Graben zwischen ihren zwei Welten wurde immer tiefer, sie verlor sich in endlosen Weiten, ging auf in der Süße Afrikas, vergaß die Zeit, den Raum, die Wirklichkeit.
Sie geriet völlig aus dem Gleichgewicht, und eines Tages schaffte sie den Sprung über den Graben nicht mehr. Sie stand von ihrer Schreibmaschine auf, trug alles Geschriebene hinaus in den Garten, grub ein großes Loch und schichtete das Papier darin auf. Dann zündete sie es an und schürte die Flammen, bis sie ihre Erinnerungen verzehrten. Sie zerstieß die flockige Asche, füllte die Grube mit Erde auf und trat sie fest.
Etwas von ihrem Lebenssaft sickerte aus der Wunde, die sie sich so zugefügt hatte. Manchmal wurde sie jetzt sehr müde.
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Am 7. Oktober 1990 kam der stündlich erwartete Anruf von Kamen. »Es ist ein Mädchen!«, schrie er aufgeregt ins Telefon. »Und sie ist bildhübsch!« Bis zuletzt hatten die beiden geheim gehalten, ob sie einen Sohn oder eine Tochter erwarteten.
Sie fuhren sofort in die Klinik. Die Kleine schlief, Fäustchen ans Gesicht gepresst, der goldene Haarflaum stand wie ein Heiligenschein um ihr Köpfchen.
lan und Henrietta verliebten sich rettungslos in ihre Enkeltochter. »Wie wollt ihr sie nennen?« »Olivia«, antwortete Julia.
»Franziska«, gab Karsten an, »nach meiner Großmutter.« Ein sehr direkter, türkisfarbener Blick. »Darüber reden wir noch«, versprach ihm Julia.
Seit Wochen schon hatte Henrietta lan durch die Babyausstattungsgeschäfte geschleift, und nachdem Julia mit Olivia in die kleine Wohnung zurückgekehrt war, die sie und Karsten bis zu ihrer Abreise nach Weihnachten gemietet hatten, erschienen sie regelmäßig mit Bergen von Einkaufstüten, lan verknipste drei Filme.
»Meine Güte, Daddy, du hast doch schon drei Alben von unserer Hochzeit!« Ein Wirbel in Weiß, Rosenduft, Mozarttöne wie klingende Tautropfen, Konfettiregen, ein exquisites Dinner im Dorfkrug und später die lebenssprühenden Rhythmen von New-Orleans-Jazz, das war ihre Hochzeit gewesen.
lan murmelte dann etwas davon, dass man ja unter Umständen einen Entwicklungssprung verpassen könnte, zum Beispiel heute habe sie ihn mit Sicherheit schon einmal
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