Ins dunkle Herz Afrikas
angelächelt.
»Daddy, sie hat Blähungen, sie lächelt dich noch nicht an! Sie ist noch viel zu klein!«
»Wie kannst du das sagen, ich hab es genau gesehen.« Er nahm sie hoch. Die Kleine gurgelte und saugte an seinem Fingerknöchel. Er sprach leise mit ihr, und als ihre Lider flatterten und sich senkten, ihr Köpfchen zur Seite fiel, ihr Atem einen sanften, regelmäßigen Rhythmus bekam, hielt er sie fest und sicher im Nest seiner Arme und wachte über ihren Schlaf.
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Henrietta überflutete eine tiefe Zärtlichkeit bei diesem Bild. Unsere Familie, der Schatz, den wir im Leben gefunden haben, dachte sie, das ist es, worum es eigentlich geht, das Einzige am Ende, was bleibt. »Ich freu mich auf Afrika«, bemerkte Julia wie nebenbei.
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An einem Tag Mitte Oktober, die milde Sonne wärmte noch, doch ahnte man schon den kommenden Herbst, saß Henrietta im Wohnzimmer und klebte die sechsundneunzig Fotos von Klein Olivia und ihren Eltern in Alben ein. Die Terrassentür war weit geöffnet. Ein paar Spatzen pickten lustlos auf ihrem schattigen Rasen. Plötzlich wurde im Nachbargarten eine Motorsäge angeworfen, und die Spatzen stoben aufgescheucht davon. Schrill kreischend fraß die Säge sich durch Holz.
Henrietta sprang auf, der Bilderhaufen rutschte auf den Boden, sie rannte auf die Terrasse, stand fassungslos, sah, wie in Kraskes Garten eine Fichte nach der anderen fiel und der schmale Streifen Sonnenlicht, der über ihren Garten floss, immer breiter wurde, bis endlich der ganze Garten in voller Sonne lag.
Nun wurde auch die Person sichtbar, die das verursacht hatte. »Frau Kraske!«, schrie sie entgeistert.
Frau Kraske stand am Zaun, graue Haarsträhnen hingen um ihr erhitztes, verdrecktes Gesicht, schwer atmend hielt sie die noch immer kreischende Motorsäge in den Händen. »So, nu isses gut«, keuchte sie, schaltete die Säge ab und ließ sie fallen. Henrietta sah in glasige Augen, die sie aber nicht wahrzunehmen schienen. Frau Kraske bürstete ihre lila Strickjacke ab, hob ihren braunen Rock an und stieg über die gefällten Bäume und humpelte ins Haus. Es war das erste Mal, dass Henrietta sie ohne ihre Krücken sah. Das Bein, das sie sich damals bei ihrem Sturz gebrochen hatte, war nie wieder ganz geheilt.
Sie brauchte Minuten, um zu verdauen, was sie da gesehen hatte. Vorsichtig näherte sie sich dem Zaun, befürchtete, dass alles nur eine 421
Illusion sei. Aber dann stand sie in der Sonnenflut, die sich bis zur Fliederhecke auf der anderen Seite ergoss. Sie stürzte ins Haus und ans Telefon. »Du wirst es nicht glauben, was hier eben passiert ist«, rief sie aufgeregt, als lan sich meldete, »ich glaub, die ist auf einem Drogentrip oder so!«
»Was? Alle Fichten sind weg? Wo ist denn ihr ekelhafter Mann, der bringt sie doch glatt um, wenn er das sieht!« Sich Frau Kraske auf einem Drogentrip vorzustellen überstieg offenbar seine Fantasie. »Hat er es endlich erreicht, sie in den Wahnsinn zu treiben?« Aber Herr Kraske blieb unsichtbar, die Fichten blieben liegen, die Sonne schien, und Henriettas Blumen streckten dankbar ihre schwachen Blätter in das Licht des Lebens.
Wenige Tage später löste sich das Rätsel des verschwundenen Herrn Kraske. Zwei Polizeiwagen und ein Unfallwagen heulten die Straße hoch und hielten quietschend vor dem Kraske'schen Haus. Henriet-ta gesellte sich zu ihren Nachbarn, die aufgeregt diskutierend in Grüppchen auf der Straße standen.
Herrn Kraskes Schwester, eine kugelige, kleine Frau mit spärlichen weißen Haaren, empfing die Polizeibeamten, völlig in Tränen aufgelöst. »Sie hat ihn vergiftet!«, schrie sie, »mit Rattengift, hat zugesehen, wie er elendiglich verreckt ist!« Ihr Schreien wurde immer wieder durch Weinkrämpfe unterbrochen.
»... und dann hat sie ihn auf ... den ... Komposthaufen abgelegt ...« Einer der Sanitäter brachte die alte Frau in den Unfallwagen, und Frau Kraske wurde abgeführt.
Alle aus der Umgebung gingen zu Herrn Kraskes Beerdigung, auch Henrietta. Er war schließlich ein Nachbar gewesen. Bald begann sich Kraskes Grundstück zu verändern. Unkraut bemächtigte sich begeistert seiner Zwiebel- und Karottenbeete, kletterte eifrig über abgeerntete Erdbeerpflanzen und bohrte sich zwischen die gefallenen Fichten und überzog sie bald mit einem dichten grünen Pelz, Schimmelpilze spönnen ihre feinen Fäden und zersetzten die Rinde.
Käfer und Würmer vermehrten sich, legten ihre Eier in das tote Holz. Es wurde porös und begann zu
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