Ins dunkle Herz Afrikas
Ingrids Augen, und es wurde ihr klar, dass sie ihre Freundin zum ersten Mal wirklich in ihrer ganzen Persönlichkeit wahrnahm. Als wäre ein Vorhang ein wenig zu Seite geschoben, lugte aus der Tiefe der blauen Augen eine andere Ingrid hervor, eine, die auch auf der Suche war.
Plötzlich war die Nähe dieses Augenblicks wieder da, als Ingrid im Juni aus der Narkose erwachte und beide erfuhren, dass ihr Leben weiterging.
Ingrid nickte. »Ja, ich glaube schon, und ich beneide dich.« Ihre nächsten Worte waren so leise, dass wohl nur Henrietta sie verstand. »Deine Seele hat eine Heimat, meine nicht.« Heiner Möllingdorf und die Kaisers saßen steif und aus unerfindlichen Gründen offensichtlich betreten auf ihren Stühlen, so als hätte sich Ingrid vor ihnen nackt ausgezogen. Keiner sprach, keiner sah den anderen an.
»Hamburg ist doch schön«, sagte Heiner endlich, »du fühlst dich hier doch auch wohl.« Es klang wie ein Vorwurf. Ingrid nickte versonnen. »Es hat nichts mit einem Ort zu tun. Es ist etwas anderes, man muss es nur für sich herausfinden.
Es hat etwas mit Dazugehören zu tun, zu wissen, wer man ist, wohin der Weg führt. Ich werde darüber nachdenken.« »Na, hoffentlich tut das nicht weh«, giftete Monika. Heiner ignorierte den Einwurf. »Du meinst, es ist so etwas wie du dich fühlst, wenn du Blumen malst ... sie ist dann nämlich richtig verträglich«, erklärte er den anderen. »Seit neuestem malt sie Blu-140
und pflastert unsere Wände damit. Ich muss sagen, einige kann man direkt ansehen.«
»Ja.« Ingrid musterte ihren Mann erstaunt, »Doch. Ein wenig.« Heiner nickte, seine Miene hellte sich auf. »Ja, dann - wenn das so ist.«
Sieh einer an, dachte Henrietta, vielleicht klappt es ja doch noch mit den beiden.
Der Wirt, ein großer, stattlicher Mann mit einer langen weißen Schürze, trat freundlich an ihren Tisch. »Hat es Ihnen geschmeckt, Frau Cargill? Was kann ich Ihnen zum Nachtisch bringen? Unsere Florentiner Creme vielleicht? Es ist unsere neueste Kreation. Weiße Mousse, karamellisierte Mandelsplitter an Orangenschaum.« Unter diesem süßen Frontalangriff wich ihr Heimweh ein wenig zurück, und sie schlief die darauf folgende Nacht durch.
141
Donnerstagabend, den 9. November 1989 in Hamburg Es war pechrabenschwarz draußen, die Wohnzimmerlampen spiegelten sich in den hohen, dunklen Fenstern, und der Fernseher lief, wie immer. Doch heute saß sie wie angenagelt davor. Berlin brodelte. Eine unübersehbare und merkwürdig friedliche Menschenmenge
stand in Ostberlin vor dem Grenzübergang und wartete. »Nu mach schon!«, rief einer, »mach doch auf, nur für eine Stunde!« Die Grenzpolizisten standen da wie aus Granit gehauen. Zustimmung aus der Menge. »Aufmachen!«, schrie ein anderer, und bald wurde das Wort zum Chor. »Aufmachen! Aufmachen!« »Tor auf, Tor auf, Tor auf!« schrien sie von hinten und drängten nach vorn. Die Bewegung wurde zu einer Welle, lief durch die Menschenreihen bis nach vorn und brandete gegen die Vopo-Mauer. Plötzlich brachen die ersten durch, ein paar Volkspolizisten versuchten, sich dagegenzustemmen, gaben aber bald auf und schoben den Schlagbaum zur Seite. Mit schockierten, leeren Gesichtern erst, dann mit einem zaghaften Lächeln sahen sie ihren Mitbürgern hinterher, die den Westen erstürmten.
Henrietta spürte einen Kloß im Hals, ihr Herz hämmerte. Nach all diesen Jahren durften diese Menschen endlich in ihre Heimat zurück. Heimat. Daheim! Ihre Tränen liefen über, tropften ihr über die Wangen. Das Wort brachte sie immer zum Weinen, und immer musste sie dabei an Afrika denken.
Als sie dann lans Autotür klappen hörte, trocknete sie sich energisch das Gesicht ab und setzte ein Lächeln auf. »Hallo, Liebling«, grüßte sie ihn,
»komm schnell, du musst dir das im Fernsehen ansehen. Es 142
ist unglaublich, was da in Berlin passiert! Sie tanzen auf der Mauer, und die Vopos schauen tatenlos zu!«
Er warf seinen Mantel auf die Truhe in der Diele und folgte ihr. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Berliner feierten. Sie wechselten kaum ein Wort, sie hätte es auch nicht gekonnt, der Kloß verschloss ihr schon wieder die Kehle.
Nach Mitternacht dann riefen die DDR-Grenzbeamten ihre Landsleute zurück.
Gegen den erleuchteten Nachthimmel, im Hintergrund die Mauer, auf ihrer Krone als Schattenrisse Hunderte von Menschen, davor das Brandenburger Tor, wirkten die Vopos in ihren schweren Winteruniformen bedrohlich. Doch sie taten nichts.
Sie
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