Ins Leben zurückgerufen
Kontrolle.
Entschlossen machte Westropp seiner Frau die Tür vor der Nase zu, wobei er ihr lautlos zu verstehen gab, daß er zehn Minuten brauche.
Sie saßen sich gegenüber, er in seinem Schaukelstuhl, sie auf der Chaiselongue. Lange Zeit sprach keiner von beiden. Es war nicht das Schweigen von Konkurrenten, die hofften, den Gegner zu einer falschen Bewegung zu nötigen, sondern das Schweigen zweier Menschen, die seit langem an Selbstgenügsamkeit gewöhnt sind.
Schließlich schenkte er zwei Tassen Kaffee ein.
Sie sagte: »Von diesem Augenblick habe ich viele Jahre lang immer wieder geträumt. Manchmal hast du mich am Ende geliebt, manchmal habe ich dich am Ende getötet.«
»Und welcher Traum hat dir am meisten Spaß gemacht?« fragte er höflich.
Die fein nuancierte Ironie machte ihn wieder lebendig, wie ein verwischtes und verzerrtes Bild plötzlich wieder scharf wird.
Sie sagte: »Hallo, Jamie.«
Er sagte: »Hallo, Cissy.«
Sie sagte: »Deine Antwort auf meinen Brief war grausam.«
Er sagte: »Dein Brief war eine Drohung.«
Sie sagte: »Ich wollte doch nur … Verständnis.«
»Das konnte ich daraus nicht ersehen.«
»Ich hatte keine Übung mehr im Briefeschreiben.«
»Ich hatte keine Übung mehr im Verstehen.«
»Verstehst du dich denn nicht … mit ihr?«
»Wir lieben einander. So habe ich überlebt. Als wir uns kennenlernten, war ich so weit, den Kampf ums Überleben aufzugeben. Da bekam ich diese neue Chance. Und gleichzeitig deinen Brief. Zukunft und Vergangenheit. Es war ein ungleicher Kampf, Cissy.«
»Es war auch ein ungleicher Kampf, wo ich war. Dort gibt es nur die Vergangenheit.«
»Aber nun bist du da raus. Die Zukunft hat begonnen.«
»Noch nicht. Das hier ist noch die Vergangenheit.«
Er befeuchtete seine Lippen mit dem Kaffee. Seine Haut hatte eine seltsame Farbe, fast gelb. Als spräche sie mit einem uralten Weisen aus dem Orient.
Er sagte: »Als ich in der Zeitung von deiner Entlassung las, dachte ich: Sie wird nicht hierherkommen. Und doch ahnte ich, daß du kommen würdest. Darum beschloß ich, nach Hause zu gehen.«
»Weil du dich verstecken wolltest?«
»Warum um alles in der Welt sollte ich mich verstecken wollen? Nein, weil ein Krankenhausbett kein Ort ist, um Besucher zu empfangen. Außerdem hatte ich schon immer vorgehabt, zu Hause zu sterben. Was bringt dich her, Cissy?«
»Warum bist du davon ausgegangen, daß ich kommen würde?«
»Weil mir klar war, daß ich 27 Jahre Zeit zum Vergessen hatte, während du 27 Jahre des Erinnerns hattest.«
»Was willst du damit sagen?« fragte sie sanft.
»Daß alles schon so lange her ist, daß ich im Sterben liege und du frei bist. Daß ich nur vermuten kann, was die Jahre im Gefängnis dir angetan haben, Cissy, aber es ist gleichgültig, ob du hier bist, weil du Rache oder weil du Vergebung suchst. Ich vergebe dir bereitwillig, wenn es das ist, was du willst, und in einigen wenigen Wochen wird die Zeit für die Rache gekommen sein, die du zu brauchen meinst. Also, warum gehst du nicht einfach, fängst ein neues Leben an und läßt mich mein altes beenden?«
Er konnte nicht erkennen, ob sie über seinen Vorschlag nachdachte oder nicht. Jedenfalls dachte sie über etwas nach. Und da sie wohl kaum eine realistische Möglichkeit sah, mit ihm zu schlafen, mußte er annehmen, daß sie die zweite Möglichkeit erwog, ihren Traum zu erfüllen.
Sie hatte eine geräumige Handtasche dabei. Sie öffnete sie und steckte die Hand hinein. Er schob seine Rechte unter das Kissen seines Schaukelstuhls und fühlte den glatten Kolben seiner kleinen silbernen Automatik.
Wie seltsam die Beweggründe zum Töten doch waren. Wollte sie ein Leben beenden, das sowieso nur noch ein paar Wochen währen konnte? Und war er bereit zu töten, um ein solches Leben zu retten?
Noch eine Minute, und man würde es wissen.
Es schellte an der Tür.
Sie entnahm ihrer Handtasche ein Taschentuch und schneuzte sich die Nase.
Er zog seine Hand unter dem Kissen hervor und nahm seine Kaffeetasse auf. Seine Hand zitterte leicht, aber nicht stärker, als man es bei einem Todkranken erwarten würde.
Er hörte Stimmen, Marilous und die eines Mannes. Die Tür ging auf, und Marilou erschien.
Sie sagte übermütig: »Du hast gesagt, ich soll sie alle reinrollen.«
Sie musterte ihn besorgt, aber auch mit dem ironischen Amüsement, das sie immer für seine, wie sie es nannte, Spielchen gezeigt hatte. Es war ihre absolute Offenheit gewesen, die er vor allem
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