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Ins Leben zurückgerufen

Ins Leben zurückgerufen

Titel: Ins Leben zurückgerufen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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auf dem Fries einer Urne – und ich konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen …«
    Nun kamen Tränen, flossen wie die ersten in all den Jahren. Und doch blieb ihre Stimme irgendwie ruhig und gleichmäßig.
    »Sie haben recht, Mr. Dalziel, ich habe versucht zu entkommen. Können Sie sich vorstellen, daß ich die Kinder völlig vergessen hatte? Da gab es nur mich und die Stimme und vor allem die eine Gestalt am Ende des Stegs und das Wasser. Kühl, dunkel, tief. Ich sprang und tauchte unter. Da fielen mir die Kinder ein. Ich begann, sie zu suchen … ich konnte nichts erkennen … ich sah kurz etwas sinken, sich drehen … ich wußte nicht, daß es Pip war, ich packte einfach zu und tauchte auf … das Boot war gekentert, es gab nichts, wo ich Pip hätte hinlegen können, während ich nach Emily tauchte … Pip spuckte Wasser in meinen Armen und versuchte zu weinen … plötzlich brach neben mir das Wasser auf, und ein Mann kam hoch und hielt Emily, und für einen Augenblick überkam mich solche Freude, daß ich alles andere vergaß … und dann sah ich Emilys Gesicht … und ich sah Ihr Gesicht … das waren doch Sie, Mr. Dalziel?«
    »O ja. Das war ich«, sagte Dalziel.
    Sie nickte. »Ich habe Ihr Gesicht oft im Traum gesehen.«
    »Es ist das Gesicht des kleinen Kindes, an das ich immer denken muß«, sagte Dalziel mit grimmiger Miene.
    Ihre Tränen versiegten so plötzlich, wie sie zu fließen begonnen hatten.
    Sie richtete ihre Worte wieder an Westropp.
    »Ich habe mir die Szene noch nie richtig ins Gedächtnis zurückgerufen. Am Anfang gab es eine Zeit, da war meine Erinnerung wie ausgelöscht. Ich wußte nur, daß ich mir keine Sorgen mehr um Entscheidungen zu machen brauchte. Ich war bereit, alles zu schreiben, was die Polizei wollte. Es ist doch eine gewisse Selbstsucht darin, wenn man etwas aus Liebe tut. Aber das Ich spielt nicht dieselbe Rolle, wenn das, was man tut, ein Sühneopfer ist.«
    »Sühneopfer?« griff Westropp das Wort mit Spott in der Stimme auf, um seinen Schmerz zu verstecken.
    »Ganz recht. Ich habe die schönen gebildeten Wörter gelernt. Weißt du noch, wie du mich immer ausgelacht hast, nur Amerikaner würden gelehrte Wörter benutzen, wenn einfache völlig ausreichten? Ja, ich habe Zeit gehabt, mir eine richtige englische Bildung anzueignen.«
    »Es ging mir weniger um dein bemerkenswertes Vokabular als um deine Gedankengänge.«
    Dalziel hatte plötzlich die Nase voll von Kohlers Seelenschürferei und Westropps kaltblütiger Selbstkontrolle.
    Er unterbrach sie: »Paß auf, Schätzchen, wir sind beide ein bißchen knapp mit der Zeit, er, weil er bald ins Gras beißt, und ich, weil ich mein Mittagessen will. Warum spuckst du nicht einfach aus, was du sagen willst?«
    Beide wandten sich ihm zu, augenblicklich vereint im Schock, und Marilou, die sich die ganze Zeit nicht gerührt hatte, machte einen ärgerlichen Schritt in Dalziels Richtung.
    Es schellte an der Tür.
    »Von der Klingel gerettet«, sagte Dalziel.
    Marilou drängte sich an ihm vorbei und lief in die Diele. Man hörte, wie sich die Haustür öffnete.
    »Pip!« sagte Marilou. »Ich bin froh, daß du da bist.« Dann veränderte sich ihr Ton von herzlich zu höflich: »Und du auch, John. Wie nett.«
    »Wir trafen uns am Tor«, sagte eine junge Männerstimme. »Wie geht’s Paps?«
    »Gut. Er hat Besuch, vielleicht solltet ihr deshalb …«
    Aber ihr Stiefsohn war schon an ihr vorbei und stand in der Tür.
    »Hallo, Paps …«, fing er an. Dann fiel sein Blick auf Dalziel und Cissy Kohler, und das Lächeln erstarrte ihm auf den Lippen. »Was zum Teufel haben Sie beide denn hier zu suchen?«
    Dalziel betrachtete ihn interessiert. In dieser Umgebung erkannte man unzweifelhaft Westropps Sohn in ihm. Er hatte das gleiche schmale Gesicht und war ebenso dunkelhaarig und gutaussehend.
    Er war auch der junge Ganove, den Dalziel in seinem New Yorker Hotel überwältigt hatte, und der junge Mann vom CIA , der Cissy Kohlers Bibel gestohlen hatte.
    Aber noch nicht genug der Überraschungen!
    »Pip, es ist alles okay, beruhige dich«, sagte Westropp. »John, schön, dich zu sehen. Du siehst gut aus.«
    Hinter Philip Westropp war Jay Waggs aufgetaucht.
    Cissy Kohler sah von ihm zu Westropp und zurück.
    »John?«
fragte sie. »Wer zum Teufel bist du? Was wird hier gespielt?«
    Waggs antwortete: »Ich hätte dir das alles vorher erklärt, wenn du nicht abgehauen wärst. Ich hätte dich vielleicht auch beinahe noch eingeholt, doch ich

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